Georg Jäger und Claus-Michael Ort
Systemtheoretische Medienkonzeptionen


Protokoll der Sitzung vom 6.2.2002



Den Referenten geht es darum, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Systemtheorie und Dekonstruktion aufzuzeigen.

Ähnlichkeiten
zwischen Systemtheorie und Dekonstruktion

  1. In ihrem Anspruch, eine "Supertheorie" zu liefern, ein begriffliches Instrumentarium, das auf eine große Zahl verschiedener Gegenstandsbereiche anwendet werden kann.
  2. Darin, dass sie von relativ vielen Autoren in diesem Anspruch anerkannt werden; dass sie die beiden beherrschenden (kulturwissenschaftlichen) Supertheorien der Gegenwart darstellen.
  3. In ihrem Anspruch, "Metaphysikkritik" zu sein, d.h., bestimmte Obsessionen der Tradition (z.B. das Substanz- und Identitätsdenken) zu überwinden.
  4. In einigen inhaltlichen Schwerpunkten: z.B. der Rede von der Uneinholbarkeit des Anfangs, die bei Derrida mit dem Schlagwort "Differance" umschrieben wird, bei Luhmann mit der Denkfigur der "Operation", die sich selbst nicht zum Gegenstand werden kann und der Rede vom blinden Fleck jeder Theoriebildung, der Unmöglichkeit, im Akt der Beobachtung, sich vom Standpunkt des Beobachters zu emanzipieren.
  5. In ihrer Unfähigkeit, eine Vision von Zukunft, von möglicher Veränderung bestehender Verhältnisse zu liefern.
  6. Im Verzicht auf den Anspruch auf Wahrheit. Als Kriterium der Richtigkeit von Theorien erscheint ihre evolutionäre Bewährung. (Das kommt bei Luhmann deutlicher zum Ausdruck.) Daraus, dass beide Theorien, Systemtheorie und Dekonstruktion, sich seit Jahrzehnten behaupten, darf man auf ihre eigene evolutionäre fitness schließen.

Unterschiede
zwischen Systemtheorie und Dekonstruktion

  1. Die Systemtheorie geht konstruktiv vor, baut Ordnung auf. Die Dekonstruktion ist gleichsam parasitär: desavouiert präexisitierende Ordnungen: die Theorien der Tradition. Aus der Sicht Derridas ist das kein Mangel – Dekonstruktion will nicht neue Beschreibungen erzeugen, das scheint ihr müßig.
    Jahraus schlägt in diesem Zusammenhang folgende Umschreibungen vor: Die Systemtheorie ist zentripetal orientiert (Jäger: auf Entfaltung gerichtet), die Dekonstruktion zentrifugal (Jäger: die Dekonstruktion hat einen implosiven Charakter).
  2. Die Systemtheorie kann eher als die Dekonstruktion eine historische Perspektive eröffnen, und zwar insofern, als sie sich ausdrücklich als Theorie der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft begreift. Die Dekonstruktion wendet ihr begriffliches Instrumentarium unterschiedslos auf Texte verschiedener Epoche an.
  3. Die Dekonstruktion schränkt ihren Gegenstandsbereich auf Texte ein. Sie bewegt sich im Universum der Zeichen. Systemtheorie transzendiert das Semiotische. Mit Begriffen wie "System", "Differenz", "Umwelt" können auch prä-semiotische Phänomene beschrieben werden, z.B. das Funktionieren einer Maschine.
  4. Die Systemtheorie platziert sich innerhalb des rationalen Diskurses. Ihre Schreibweise ist transparent, auch wenn sie von Intransparenz, Unbeobachtbarkeit handelt. Insofern erscheint sie für den Wissenschaftsbetrieb handhabbar. Dekonstruktion will die rationale Argumentation sprengen. Sie dekonstruiert nicht allein die Gegenstände ihrer Rede, sondern die eigene Äußerungsform. Der literarisierende Gestus Derrida resultiert also nicht aus einem Unvermögen des Autors. Er ist programmatisch.
  5. Systemtheorie ist begrifflich komplexer, offener für Theoriendynamik und anschlussfähig für verschiedene Disziplinen. Dekonstruktion repetiert immer die gleichen Figuren.
  6. Dekonstruktion ist politisch. Derrida begreift sein Philosophieren als Vorstufe zur politischen Intervention. Luhmann enthält sich politischer Stellungnahmen, zumindest in seiner Eigenschaft als Systemtheoretiker. Systemtheorie ist im Vakuum politischer Indifferenz angesiedelt.
  7. Luhmann ist offen für den Peirceschen dreiwertigen Zeichenbegriff. In dieser Sichtweise scheint es müßig, von Welt unabhängig von Zeichenprozessen zu reden. Derrida ist dem zweiwertigen Zeichenbegriff Saussures verpflichtet. Allein aus diesem Grund ist es ihm möglich, eine Dichotomie von Zeichen und Welt zu behaupten. Die Rhetorik der Abwesenheit entstammt einem konservativen Zeichenbegriff.

Fragen an die Systemtheorie

Ein Problem der Systemtheorie besteht darin, dass Luhmann nur binäre Unterscheidungen zulässt im Sinne des Ja-oder-Nein und Entweder-Oder. Selektion erscheint stets als Entscheidung für eine und gegen alle anderen Handlungsoptionen. Letztere werden dabei als Einheit betrachtet. Dass es viele verschiedene Optionen sind, dass eine Asymmetrie zwischen der "Ja"- und der "Nein"- Seite besteht, wird nicht berücksichtigt. Diese Asymmetrie wirft die Frage auf, ob eine binäre Rekonstruktion der Komplexität von Selektion gerecht wird.

Weiterhin ist zu fragen, ob das Subjekt einen Ort in der Systemtheorie hat. Es erscheint zwar nicht explizit in der systemtheoretischen Rede, aber der Common sense kann auf den Begriff des Subjekts nicht verzichten. Luhmanns Leser begreifen sich selbst als Subjekte und möchten sich theoretisch platzieren können. Hier hilft die Metapher vom Schachspiel weiter. Das Geschehen des Spiels kann nicht ohne ein Agens: ohne den Spieler erklärt werden, der Spieler wird aber nicht sichtbar.

Es ist unklar, ob Luhmann das Konzept "Komplexitätsreduktion" überzeugend modelliert hat. Durch Selektion wird Komplexität reduziert: Unter vielen ö wird eine ausgewählt. Die vielen ö, die aktuell ausgeschlossen wurden, bleiben aber potentiell erhalten. Sie bilden gleichsam den Hintergrund, von dem sich die eine aktualisierte Möglichkeit abhebt. Insofern bleibt Komplexität trotz Selektion erhalten. Das Dilemma lässt sich lösen, wenn man die potentielle Komplexität der Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung zuweist: Wer selektiert, kann selbst kein Bewusstsein von den ausgeschlossenen Möglichkeiten mehr haben.

Schließlich kann man Luhmanns Begriff der Autopoiese in Frage stellen, und zwar anekdotisch: Maturana, dem Luhmann diesen Begriff verdankt, lässt Autopoiese nur im Zusammenhang der Zellbiologie zu. So gesehen ist die Hypostasierung dieses Konzepts in der Systemtheorie fragwürdig.


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