Georg Jäger und Claus-Michael Ort
Systemtheoretische Medienkonzeptionen



Die historischen und theoretischen Auswirkungen von Buchdruck und elektronischen Medien auf die gesellschaftliche Kommunikation und die Bedeutung dieser Veränderungen für Religion und Moral


Gliederung

  1. Einleitung
    1. 2.1 Kommunikation durch technische Verbreitungsmedien: Buchdruck und Elektronische Medien
    2. Historische und theoretische Auswirkungen von Buchdruck und elektronischen Medien auf die gesellschaftliche Kommunikation hinsichtlich
      1. der Wahrscheinlichkeit der Kommunikation und Teilnahmemöglichkeiten sowie
      2. der veränderten Ordnung gesellschaftlicher Kommunikation
    3. Auswirkungen der veränderten gesellschaftlichen Kommunikation auf Religion und Moral
  2. Fazit


Einleitung

Erfindung des Buchdrucks mit flexiblen Lettern durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert gilt als Voraussetzung und Beginn der Neuzeit. Die Möglichkeit der technischen Vervielfältigung von Texten und die dadurch beförderte Verbreitung schriftlicher Kommunikation hatte gravierenden Einfluß auf die gesellschaftliche Kommunikation und damit auf die Entwicklung der Gesellschaft.

Elektronische Medien und elektronische Datenverarbeitung als nachfolgende Entwicklungsstufen schriftlicher Kommunikation zeichnen das Ende der Gutenberg-Galaxis ab. Ihr Einfluß auf Gesellschaft und gesellschaftliche Kommunikation scheinen mindestens ebenso einschneidend zu sein. Das Hauptwerk des Soziologen Niklas Luhman befaßt sich mit der Gesellschaft aus systemtheoretischer Perspektive und untersucht in diesem Rahmen auch die Wirkung und Bedeutung von Kommunikation sowie ihren Einfluß auf Religion und Moral.

Aus historischer und sytemtheoretischer Perspektive untersucht diese Arbeit, wie speziell Buchdruck und elektronische Medien, die technischen Verbreitungsmedien von Schrift, die gesellschaftliche Kommunikation im Bezug auf die Teilnahmemöglichkeit und die Organisation der Kommunikation verändert haben und inwiefern diese Veränderungen aus Sicht der Systemtheorie das Ende religiöser Kommunikation und den Beginn moralischer Kommunikation bedeuten.


1. Kennzeichen der schriftlichen Kommunikation mittels Buchdruck und Elektronischen Medien

Kommunikation versteht Luhmann nicht als Übertragung oder Vermittlung von Information, sondern als Synthese dreier Selektionsvorgänge: Informieren, Mitteilen und Verstehen. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft steigern sich die Selektionsmöglichkeiten aufgrund von Kontingenz, also des möglichen Andersseins des Gegebenen, was erfolgreiche Kommunikation unwahrscheinlich macht. Kommunikation hat die Aufgabe, die daraus entstandene Komplexität zu reduzieren, um so sich selbst wahrscheinlicher zu machen.

Schriftliche Kommunikation ist die "Differenz von mündlicher und schriftlicher sprachlicher Kommunikation für Abwesende durch Abwesende." (1). Die Abwesenheit der Kommunikationspartner führt zur Erhöhung der Unsicherheit der Kommunikation und desozialisiert die kommunikative Situation, macht sie dadurch aber zeitlich und räumlich unabhängig. Schrift als "eine Umsetzung von Sprache in ein optisches Medium" (2) symbolisiert die Form der Differenz von Laut und Sinn der Sprache. Sie läßt "den Zusammenhang der Selektionen Information und Mitteilung intakt [...], ermöglicht aber eine Vertagung des Verstehens [...] [und] vergrößert als Verbreitungsmedium die Reichweite der sozialen Redundanz." (3). Mit Hilfe der Schrift werden "Texte zu Medien" (4), die Literalität voraussetzen und eine Interpretation zulassen (5).

Buchdruck als eine durch Technik ermöglichte Produktion der schriftlichen Kommunikation, also von Medien in Form von Texten, weitet den Kreis des Publikums eines Textes aus und ermöglicht die universelle Mitteilung von Wissen. Das Publikum wird dadurch zu Konsistenzprüfung und Possibilisierung des Wissens veranlasst (6), die Unsicherheit der Kommunikation gegenüber der handschriftlichen Verbreitung jedoch erhöht. Durch gedruckte Schrift befreit sich die Kommunikation von gesellschaftlichen, zeitlichen, sachlichen und räumlichen Beschränkungen. Die durch die Verbreitung erzwungene Standardisierung der Schrift erleichtert die Kommunikation.

Elektronische Medien und damit auch digital gespeicherte Schrift stellen "weder mündliche noch schriftliche Kommunikation in Frage, sondern eröffnen ihnen nur zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten" (7). Digital gespeicherte Schrift verstärkt die Unsicherheiten der Kommunikation gegenüber der gedruckten Schrift. Digitale Technologien werden als "Verbreitungsmedien für Kommunikationen [gesehen], die mehr noch als Schriften die dreifach-selektiven Differenzen von Kommunikation gegeneinander differenzieren, dabei vor allem Autor- und Adressatenschaften weiter anonymisieren und die Eigenselektivität von kommunikativen Zugriffen verstärken." (8)

Genau wie der Buchdruck werden die sogenannten neuen Medien nach Giesecke zu einer Projektionsfläche für Wünsche wie der Generierung und Speicherung von Wissen und neuer Möglichkeiten der Kommunikation. Neue und erweiterte Kommunikationsformen werden aber erst durch die Erhöhung der dem Einzelnen zugänglichen Varianten (Vernetzung) und durch das Nebeneinander der Varianten (Hypertextualität) möglich.

Kommunikation bewegter Bilder in Verbindung mit Ton (als Kino), mit Telekommunikation (Fernsehen) und mit elektronischer Datenverarbeitung (multimediale Angebote) können im Rahmen dieser Untersuchung über mündliche und schriftliche Verbreitungsmedien nicht eingehend behandelt werden, da das eine ausführliche Beschäftigung mit Kunst und Bildsprache erfordert, die hier nicht geleistet werden kann.


2. Einfluß von Buchdruck und elektronischen Medien auf die gesellschaftliche Kommunikation

Buchdruck und elektronischen Medien verändern die gesellschaftliche Kommunikation, besonders stark im Bezug auf die Zugangsmöglichkeiten zur Teilnahme an Kommunikation, auf die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation und damit auch auf die funktionale Ordnung der Kommunikation.


2.1. Wahrscheinlichkeit der Kommunikation und veränderte Teilnahmemöglichkeiten

Auch wenn sich viele der Folgen des Buchdrucks als Folgen des Wandels von mündlicher zu schriftlicher Kommunikation sehen lassen, kommen sie doch nur aufgrund der hohen Verbreitung der Texte zum Tragen.

Die Erfindung des Buchdrucks bedeutet eine für Massenproduktion notwendige Arbeitserleichterung für schon bestehende, auf marktmäßige Verbreitung ausgerichtete Kopier- und Schreibwerkstätten. Neben der technischen Ausweitung der Produktion garantiert Druck, im Gegensatz zur Abschrift oder Niederschrift, die inhaltliche Authentizität der Kopie.

Konsequenzen für die gesellschaftliche Kommunikation ergeben sich vor allem durch den geringeren Herstellungspreis und die damit verbundenen Schaffung eines größeren Marktes. Dieser Markt wiederum bedarf als Zugangsvoraussetzung für den Nachfrager der Lesefähigkeit desselben - Drucktechnologie erzeugt also Lesefähigkeit und auch die Fähigkeit, ohne (persönliche) fremde Hilfe und damit unabhängig Wissen erwerben zu können. Dies hat für die Entwicklung der Gesellschaft immense Bedeutung.

Schulunterricht anhand gedruckter Texte fordert und fördert uniformisierte Sprachen, die sich seit dem 16. Jahrhundert als Nationalsprachen durchsetzen und Latein als einzige, Grenzen übergeifende, aber der klerikalen Bildungselite vorbehaltene Sprache der Wissenstradition ablösen. Die regionalen Dialekte der mündlichen Sprache bleiben zwar weiterhin erhalten und verhindern zuweilen noch heute eine transregionale Kommunikation zwischen Individuen, die gemeinsame Schriftsprache jedoch wird überregional verstanden.

Vormals mündlich tradierte Inhalte werden nun, da die Lesefähigkeit zunimmt, ohne den Zwischenschritt einer handschriftlichen Verbreitung gedruckt fixiert. Die Autorität mündlicher Tradierungen läßt nach, die Drucklegung mündlich oder handschriftlich überlieferter Inhalte ermöglicht eine Vergleichbarkeit von Expertenwissen und damit eine Zugangserleichterung zu diesem.

Die Möglichkeit, Forderungen und Meinungen in Druckschriften zu fixieren und sie sehr schnell nicht mehr nur einem Adressaten, sondern einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, unterläuft traditionelle Kanäle politischer Kommunikation. Man kann hier von einer Zentralisierungswirkung der Kommunikation sprechen, die auch die politische Regionalisierung auflöst. Nach Luhmanns Ansicht "fördert der Buchdruck heimlich den Trend zur Individualisierung der Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation" (9) nicht nur im Hinblick auf die Eigenverantwortlichkeit der Bildung, sondern auch im Hinblick auf Förderung von Kritik und abweichender Meinung.


Die Nutzung von Elektrizität erweitert die bisherigen Kommunikationsmöglichkeiten.
Technik und Information gehen eine strukturelle Kopplung ein, die Gesellschaft wird dadurch zwar abhängiger von einer störungsfreien technischen Umwelt, die Kommuniktionsmöglichkeiten vervielfachen sich jedoch. Elektronische Maschinen der Informationsverarbeitung ermöglichen zunächst über Rationalisierung und Rechenleistung eine Leistungssteigerung des Menschen, der sich nun der herkömmlichen Kommunikationswege effizienter bedienen kann. In Verbindung mit Telekommunikation überwindet elektronische Kommunikation räumliche und mittels Aufzeichnungsmöglichkeiten auch zeitliche Beschränkungen und erleichtert so das Zustandekommen von Kommunikation.

Bemerkenswert ist nach Luhmann das nun veränderte Verhältnis von Oberfläche und Tiefe. Traditionell, z. B. in Kunst oder Religion und auch im Buchdruck, war die Oberfläche eine zugängliche Darstellung der Bedeutung. Die Tiefe, also die Bedeutung, wurde durch Interpretation der Oberfläche abgeleitet. Nun ist die Oberfläche der Bildschirm und Tiefe eine unsichtbare Maschine, die sich selbst je nach Befehl umkonstruiert und nicht sich selbst, sondern Ergebnisse und/oder Interpretationen auf der Oberfläche sichtbar macht.

An die Stelle von festgelegten Codes treten temporalisierte Formen, "jede Festlegung produziert einen unmarkierten Raum und in ihm eine andere Seite, die nur über einen anderen Operator bestimmt werden kann." (10). Diese Markierung von Formen ermöglicht ein vielfältigeres Unterscheiden und Bezeichnen in der Kommunikation, das die Gesellschaft nach Luhmanns Ansicht unweigerlich verändert - nicht zuletzt über eine neue Stufe der Kompetenz. Um mit der Gesellschaft kommunizieren zu können genügt es nicht mehr, literalisiert zu sein, nun muss auch die Kopplung von Oberfläche und Tiefe beherrscht werden, also wie man der Maschine Befehle gibt. Unsicherheit und Störanfälligkeit der Kommunikation nehmen daher im Vergleich zu gedruckten Medien zunächst wieder ab.

Die durch die Technik erzwungene Einseitigkeit von Kommunikation verändert das Selektionsgeschehen, es wird nicht mehr in der Kommunikation sondern für die Kommunikation selegiert. In der computerunterstützten Kommunikation wird die Einheit von Mitteilung und Information aufgegeben. Die für den Buchdruck noch relevante Autorität der Quelle wird annulliert und ersetzt durch die Anonymität der Quelle. Dies führt nach Luhmann zu einer extremen sozialen Entkopplung des medialen Substrats der Kommunikation (11).

Computerprogramme entscheiden zwar "noch nicht, wie das Medium die Kommunikation selbst zu Formen verdichtet" (12), sind aber Formen, die die Möglichkeiten der strikten Kopplung einschränken und ausweiten können. Durch Schrift war unter Vorgabe der Informationsidentität eine zeitliche und räumliche Entkopplung von Mitteilung und Verstehen erreicht worden, der Computer kann nun "die Sachdimension des Sinns der Kommunikation einbeziehen" (13). Luhmann spekuliert aus diesem Grund über einen möglichen Umbau der Ordnungsform von Wissen.

Die Bedeutung der elektronischen Verbreitungsmedien für die Gesellschaft sieht Luhmann erstens in der Verschärfung der Diskrepanz zwischen potentieller und tatsächlich stattfindender Kommunikation, und zweitens im Selektionsproblem, dem durch zeitgleiche Organisation und Individualisierung der Selektion begegnet wird. Elektronische Medien lösen die Einheit der Kommunikation auf und machen damit die Differenz von Medium und Form wichtiger.

Ein wesentlicher Aspekt der Zugangserleichterung zur Teilnahme an Kommunikation ist der Verzicht auf die Notwendigkeit räumlicher Integration gesellschaftlicher Operationen. Integration versteht Luhmann als Einschränkung von Freiheitsgraden der Systeme. Schon Schriftlichkeit macht Kommunikation unabhängig von der Anwesenheit eines Senders. In der Zeit der Handschriften besteht noch eine Abhängigkeit von der gleichzeitigen räumlichen Anwesenheit des Originals oder einer der wenigen Abschriften und des Empfängers - zumeist in einer Bibliothek, zu der sowohl dem Empfänger und als auch dem Buch der Zugang gewährt werden musste.

Dass durch Buchdruck im 18. Jahrhundert die gesellschaftliche Integration der öffentlichen Meinung überlassen wird, bedeutet den Verzicht auf diese Beschränkung und damit "eine Freigabe des Zugangs für beliebige Personen, also Verzicht auf Kontrolle des Zugangs, also strukturelle Unbestimmtheit der räumlichen Integration" (14). Durch elektronische Telekommunikation wird schließlich auch die räumliche Integration aufgegeben.


2.2. Ordnung gesellschaftlicher Kommunikation

Auch die Funktion und Ordnung von schriftlicher Kommunikation verändert sich durch Buchdruck und elektronische Medien gravierend. Durch den Buchdruck wandelt sich die Zielsetzung der Publikation vom Bewahren und Festhalten einer Textfassung für nachfolgende Generationen oder zum späteren mündlichen Kommunizieren, hin zum diskursiven Umgang mit gedruckten Texten, die an zeitgleich lebende, aber möglicherweise geografisch getrennte Lesergruppen gerichtet sind und als Buch selbst kommunizieren.

Buchdruck wird zur Infrastruktur des Gedächtnisses der Gesellschaft. Bereitgehalten wird dieses nicht mehr individuelle Wissen in öffentlichen Bibliotheken, was unabhängig vom Generationenwechsel, mit dem früher Wissen verlorenging oder verändert wurde, eine Stabilität garantiert. Diese neue, auf Identität und Unverfälschtheit des Wissens basierende Stabilitätsgarantie löst familiäre und räumliche Stabilitätsgarantien ab und ersetzt sie durch funktionale Formen des Verteilens und Bewahrens von Wissen.
Luhmann nimmt an, dass sich dadurch als tiefgreifendste Auswirkung des Buchdrucks das Verständnis von Kommunikation gewandelt habe. Er führt dazu an, dass man "Aufzeichnen" und "Kommunizieren" als Funktionen des Buches nicht unterschieden hat und dass das Medium "Buch" an sich schon als Kommunikator gegolten hat, das die Botschaft "Text" an den Kommunikant weitergegeben hat (15). Seinem Vergleich liegt seine eigene systemtheoretische Definition der heutigen Kommunikation zugrunde; das allgemeine Verständnis von Kommunikation weicht hier jedoch noch nicht so stark ab wie er annimmt.

Eine Folge des Einflusses der elektronischen Datenverarbeitung auf die Gesellschaft sind "weltweit operierende, konnexionistische Netzwerke des Sammelns, Auswertens und Wiederzugänglichemachens von Daten, [...], die themenspezifisch, aber nicht räumlich begrenzt operieren." (16) Diese Veränderung der Struktur der gesellschaftlichen Kommunikation kann als Wandel von hierarchischer zu heterarchischer Ordnung bezeichnet werden. Herrschaftswissen war Basis klerikaler oder weltlicher Macht. Durch den Buchdruck und die verbreitete Literalität wurde die hierarchische Autorität durch die öffentliche Meinung abgelöst. Computertechnologie und die heterarchische Vernetzung von Kontakten greifen heute die Autorität der Experten an, indem Wissen allen zugänglich gemacht und auch Expertenwissen nun frei verfügbar wird.
Wesentlich wird als symbolisches Kommunikationsmedium jetzt das Vertrauen, doch das läßt sich im Digitalzeitalter nicht mehr personalisieren und in sozialen Status umsetzen, sondern beruht auf Systemvertrauen.

Luhmann spricht davon, dass in der dezentrierten Ordung einer Heterarchie auch die Folgen der Selektion weitreichender werden würden. Dies widerspricht jedoch eigentlich einer netzartigen Kommunikationsstruktur, die zumindest Selektionsreduktionen durch Knotenpunkte und damit mögliche Umwege umgehen kann. Offensichtlich besteht aber ein Verlangen nach einer gültigen und akzeptierten Vorselektion und nach Beständigkeiten, was beides durch die Verbreitungsmedien geleistet wird. So nimmt die Bedeutung von Beobachtungen zweiter Ordnung zu: Beobachter erster Ordnung in der Funktion eines Redakteurs selegieren und reduzieren bzw. eröffnen dadurch Kommunikation, was die Folgen der Selektion für den Beobachter zweiter Ordnung, den Leser oder Zuschauer, potenziert.


3. Auswirkungen der veränderten gesellschaftlichen Kommunikation auf Religion und Moral

Auf Grundlage der Untersuchung des Einflusses der technischen Kommunikationsmedien auf moralische Kommunikation kann nun der Einfluß der veränderten gesellschaftlichen Kommunikation auf die Religion und Moral aufgezeigt werden.

Im Gegensatz zu Religion als Funktionskreis über Kommunikationssperren ist Moral ein Funktionkreis über Codierung von gutem und schlechtem Verhalten.
Religion hat in traditionellen Hochkulturen die Aufgabe, die Gesellschaft in die Welt zu integrieren. Durch die veränderte Gesellschaft sind jedoch neben der Religion auch nach außen ausgerichtete Funktionen zur Kontrolle der Umwelt relevant. Mit dieser Umweltzuwendung und einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft ändern sich die Anforderungen der Gesellschaft an die Religion: Religion wird mit vermehrten, durch die neue Effektivität der gesellschaftlichen Kommunikation ausgelösten Kontingenzen konfrontiert und muß mit Folgeproblemen funktionaler Differenzierung umgehen, die nicht mehr auf transzendentale Gründe zurückzuführen sind, sondern auf Probleme der Gesellschaft selbst (17).

Eine der Konsequenzen des Umbaus der Gesellschaft in ein "primär funktional differenziertes System, in dem jeder Funktionsbereich höhere Eigenständigkeit und Autonomie gewinnt" (18), aber von der Funktionserfüllung anderer Bereiche abhängiger wird, ist die Säkularisierung, die auch auf den durch die Literalisierung der Gesellschaft ausgelösten Druck des Religionsvergleichs im 18. Jahrhundert und das durch Buchdruck entstandene Geschichtsbewußtsein zurückzuführen ist.

Durch den freien Zugang zu Kommunikation und die heterarchische Ordnung der Kommunikation steht die Gesellschaft nun vor der Anforderung der religiösen Toleranz: Diese wird mit Moral begründet, die Beurteilung der Religionen selbst werden dem Kulturvergleich bzw. einer nicht mehr religiösen, sondern moralischen Beurteilung überlassen.
"Moral scheint eine gesellschaftliche Universale zu sein, mit dem man auf das Unwahrscheinlichwerden der Annahme von kommunikativ zugemutetem Sinn reagiert." (19)

Die beschriebenen Einflüsse des Buchdrucks sowie die Ausdifferenzierung von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien haben die "mythische" Bedeutung von Moral reduziert, indem Moralverstöße und deren Beurteilung erklärbar werden, "Moral" den Nimbus des Magischen (20) und das Negativurteil "Unmoral" an Macht verliert.
Die Frage nach den Motiven für Moral oder Unmoral tritt in den Vordergrund, "moralisches Urteilen wird selber verurteilt" (21). Dies zeigt sich nach Luhmann im Führungswechsel von Religion und Moral in den semantischen Prioritäten des 18. Jahrhunderts. Moral ist nicht mehr gleichbedeutend mit "sozial", sondern gewinnt ein eigenes Profil von Anforderungen, die aus Theorien der Natur des Menschen und schließlich aus der neuen Theorie der Ethik abgeleitet werden.

Um das theoretisch zu erklären, bezieht sich Luhmann auf die Medium/Form-Unterscheidung: Das spezifische, aber universale Medium Moral wird codiert durch die Differenz von Achtung und Mißachtung. Elemente des Mediums sind Kommunikationen darüber, ob etwas zu achten oder zu mißachten ist.
Die Form der Elemente (also des medialen Subtrats) unterscheidet sich durch die Codierung, und der Bezug auf ein Individuum und die Formalität der Differenz lassen eine lose Kopplung zu, die durch die zunehmende Individualisierung der Personenreferenzen noch lockerer wird. Das Medium selbst bleibt dabei stabil und gewinnt eher noch an Bedeutung.
Das Verhältnis zwischen der Form des medialen Substrats und den Formen, die mit dem Medium gebildet werden, ändert sich hingegen. Das Medium selbst bleibt stabil, die Regeln für die im Medium gebildeten Formen aber sind instabil.
Diese Differenz von loser Kopplung des Substrats und stabiler Form wird voll ausgenutzt und "führt zu einer Gleichzeitigkeit von Konsens und Dissens, Stabilität und Instabilität, Notwendigkeit und Kontingenz in der moralischen Kommunikation." (22).

Der Zusammenbruch der hierarchischen Moralstruktur von stabilen Normen als Supra-Normen und variablen Normen als Sub-Normen führt zu einer Neuformulierung von mit der Differenz von Variabel und Kontingent kompatiblen Werten. "Was Moral betrifft, so findet man jetzt typisch einen unformulierten (unterstellten) Konsens in Wertbeziehungen." (23). Über Wertkonflikte wird dadurch aber immer situationsabhängig durch Einzelpersonen entschieden; über die Formen der Moral, also die Bedingung von Achtung und Mißachtung, entsteht ein moralischer Dissens. Offenbar müssen beide Seiten der Unterscheidung von Konsens und Dissens, Stabilität und Instabilität, usw. moralfähig sein: "die Moral aktualisiert sich in der Einheit der Differenz der beiden Seiten dieser Unterscheidungen, wobei die Einheit selbst [...] sich der Kommunikation entzieht." (24).

Moral hat nicht mehr die Funktion, die Gesellschaft zu integrieren, sondern übernimmt "eine Art Alarmierfunktion" (25) überall dort, wo gesellschaftliche Probleme nicht mit symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien gelöst werden können. Heute wird besonders dort mit Moral argumentiert, wo eben diese symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien versagen oder unterlaufen werden.
Durch den Einfluß technischer Verbreitungsmedien auf die gesellschaftliche Kommunikation erfolgt diese moralische Kommunikation über gedruckte Massenmedien und zunehmend auch über die elektronischen Medien. Sie wird durch die Selegierung der Beobachter erster Ordnung für die Beobachter zweiter Ordnung zum moralischen Skandal gewertet. Kritisch zu bewerten ist, dass Luhmann hier zwar die Moral als zweiwertige Aussage sieht, aber davon ausgeht, dass sie per se negativ und von einer Ethik zu kontrollieren sei (26). Moralische Kommunikation hat durch die technischen Verbreitungsformen Buchdruck und elektronische Medien die durch ebendiese Verbreitungsformen obsolet gewordene religiöse Kommunikation ersetzt.

Fazit

Buchdruck und elektronische Medien als technische Verbreitungsmedien von Schrift haben unabhängig das Volumen der gesellschaftlichen Kommunikation erweitert, sie räumlich und zeitlich gemacht und die Teilnahmemöglichkeit des Individuums vergrößert. Die Ordnung der gesellschaftlichen Kommunikation verändert sich dadurch von einer hierachischen zu einer heterarchischen Struktur. Der durch diese Komplexität gestiegenen Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation begegnet die Gesellschaft durch das Konzept der zweifachen Beobachtung. Dabei trifft ein erster Beobachter eine Vorselektion hinsichtlich der drei Selektionsvorgänge Information, Mitteilung und Verstehen und erzeugt so für den zweite Beobachter Redundanz.

Eine veränderte Gesellschaft stellt an Religion neue Anforderungen zur Integration in die Umwelt und findet durch die veränderte gesellschaftliche Kommunikation außerhalb der religiösen Kommunikation Bewertungsmethoden für Verhalten: Moral als stabiles Medium mit instabilen Regeln zur Formbildung ist mit der heterarchischen Ordnung gesellschaftlicher Kommunikation kompatibel und kann so zunächst die Funktion der Religion als gesellschaftlicher Integration übernehmen. Die zunehmende Heterarchisierung jedoch führt wohl auch im Hinblick auf Moral zur Bildung einer zweifachen Beobachtung bzw. Wertung, also der künstlichen Schaffung einer Wertungsinstanz.



Literatur:

  • Giesecke, Michael: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel.
    1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1992
  • Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon.
    3. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2001
  • Kneer, Georg mit Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie der Sozialen Systeme: Eine Einführung.
    3. Aufl. München: Fink 1997
  • Luhmann, Niklas: Funktion der Religion.
    1. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp Verlag 1982
  • Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft.
    1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997


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(1) Detlef Krause: Luhmann- Lexikon 2001, S. 154
(2) Niklas Luhmann; Die Gesellschaft der Gesellschaft 1997, S. 256
(3) Gesellschaft, S. 258
(4) Luhmann- Lexikon, S. 155
(5) Gesellschaft, S. 262
(6) Luhmann- Lexikon, S. 114
(7) Gesellschaft, S. 303
(8) Luhmann- Lexikon, S. 115
(9) Gesellschaft, S. 298
(10) Gesellschaft, S. 305
(11) Gesellschaft, S. 309
(12) Gesellschaft, S. 310
(13) Gesellschaft, S. 310
(14) Gesellschaft, S. 314
(15) Gesellschaft, S. 299
(16) Gesellschaft, S. 304
(17) Niklas Luhmann: Funktion der Religion 1982, S. 231
(18) Religion, S. 255
(19) Gesellschaft S. 249
(20) vgl. Gesellschaft, S. 398
(21) Gesellschaft, S. 398
(22) Gesellschaft, S. 401
(23) Gesellschaft, S. 402
(24) Gesellschaft, S. 403
(25) Gesellschaft S. 404
(26) vgl. Kneer, S. 185