Georg Jäger und Claus-Michael Ort
Systemtheoretische Medienkonzeptionen



Medium / Form-Begriff
nach Niklas Luhmann


      Gliederung

    1. Medium und Form als Untersuchungsrahmen
    2. Die Bedeutung der Kommunikation
    3. Der Beobachter
    4. Die Unterscheidung von Medium und Form
    5. Der Sinnbegriff in der Medium / Form-Unterscheidung
    6. Der Begriff des Re-entry
    7. Zum Verhältnis von Oralität und Literalität
    8. Verwendete Literatur


1. Medium und Form als Untersuchungsrahmen

Aufbauend auf die Unterscheidung von Medium und Form bei Niklas Luhmann möchte ich das Verhältnis von Oralität und Literalität untersuchen.
Die Medium/Form-Unterscheidung bietet sich als theoretische Grundlage an, da sie hierfür, wie Luhmann in seinem Aufsatz "Die Form der Schrift" bemerkt hat, einen Rahmen bildet: "Sie ist selbst eine Anwendung auf sich selbst, ist selbst eine Form im Medium der Sprache und auch im Medium der Kommunikation." (Luhmann in Jäger/Switalla 1994, S.419).


2. Die Bedeutung der Kommunikation

Kommunikation ist kein Einzelereignis, sie existiert nur in der Reaktion auf vorangehende Kommunikation. Somit setzt Kommunikation Kommunikation voraus. Kommunikation ist eine dreifach-selektive Einheit, bestehend aus Information und Mitteilung, die aufeinander bezogen zum Verstehen führen. Aus der Sicht eines Beobachters sind mindestens zwei Personen, Sender A und Empfänger B, beteiligt.
Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation ist durch die dreifache Selektion bedingt. Die erste Selektion trifft A mit seiner Entscheidung, was er als Information betrachten will. In der Entscheidung zur Mitteilung und zur Art der Mitteilung trifft A die zweite Selektion. Das Verstehen des B als Einheit der Differenz von Information und Mitteilung ist die dritte Selektion.
Hohm unterscheidet drei "Unwahrscheinlichkeitsprobleme" (Hohm 2000, S.64), die von der Kommunikation überwunden werden müssen, um Kommunikation bestehen zu lassen. Ein Unwahrscheinlichkeitsproblem ist die Differenz von Information und Mitteilung, trotz derer Verstehen möglich sein muss. Das zweite Problem liegt in der Reichweite der verbreiteten Informationen. Eine weitere Unwahrscheinlichkeit ist der kommunikative Erfolg, der die Akzeptanz der Mitteilung voraussetzt.
Medien haben die Aufgabe, das "Unwahrscheinliche der Kommunikation wahrscheinlicher zu machen" (Krämer 1998). Medien sorgen (durch Sprache, Verbreitungs- und Erfolgsmedien) für ein andauerndes Kommunikationsgeschehen, das die kommunikative Autopoiesis der Gesellschaft ermöglicht. Mit Hilfe dieser Medien ist auch die Lösung der genannten Unwahrscheinlichkeitsprobleme möglich.
Kommunikation darf aber nicht als Übertragungsprozess von Information betrachtet werden (Luhmann 1997a, S.194), da eine Übertragung von Information von einer Person auf eine andere nicht möglich ist. Um den Begriff der Übertragung von Information zu ersetzten, bedient sich Luhmann der Unterscheidung von Medium und Form. In diesem Zusammenhang fungieren die Kommunikationsmedien als eine Handhabung der "Differenz von medialem Substrat und Form" (Luhmann 1997a, S.195). Kommunikation ist nur durch diese Differenz möglich.


3. Der Beobachter

Beobachtung kann nur mit Hilfe von bezeichnenden Unterscheidungen stattfinden. Der Beobachter erzeugt also durch seine Beobachtung Differenzen, er erkennt und beschreibt Unterschiede zwischen Gegenständen, Ereignissen oder Zeichen.
Es gibt Beobachtungen erster und zweiter Ordnung. Beobachtungen erster Ordnung sind objektiv und können nur das unterscheiden, was sie sichtbar machen. Beobachtungen zweiter Ordnung sind Beobachtungen von Beobachtungen (erster Ordnung). Beobachter erster und zweiter Ordnung können durchaus die gleiche Person bzw. das gleiche System sein. Durch Beobachtung von Beobachtungen kann ein Beobachter zu neuen Erkenntnissen gelangen, da die Unterscheidung, wie etwas sichtbar wird, erkennbar ist. Jede Beobachtung "unterscheidet, obwohl oder weil sie nicht unterscheiden kann, was sie unterscheidet" (Krause 2001, S.113) und ist somit paradox.
Medium und Form sind keine gegebenen Formen, sondern Unterscheidungen, die vom Beobachter getroffen werden. Das führt zu einem Wechsel in der Perspektive. Was aus einer bestimmten Blickrichtung ein Medium ist, kann aus einer anderen zur Form werden (Krämer 1998). Form kann nur durch Beobachtung entstehen. Die vom Beobachter bezeichnete Seite ist die "Innenseite" (Jahraus 2001, S.323) der (zweiseitigen) Form.
Die Elemente, die in der Medium/Form-Unterscheidung eine wichtige Rolle spielen, müssen von einem "beobachtenden System konstruiert" (Luhmann 1997b, S.167) werden. Sie existieren folglich nur durch die Unterscheidung eines Beobachters. Die Elemente sind aber keine "Letzteinheiten" (Luhmann 1997b, S.168), sondern sie verweisen immer wieder zurück auf den Beobachter.


4. Die Unterscheidung von Medium und Form

Medien und Formen existieren nur im Bezug auf ein System, dies bedeutet "es gibt sie nicht an sich" (Luhmann 1997b, S.166). Eine Medium/Form-Unterscheidung ist somit nur systemintern möglich, das heißt eine für ein System entworfenen Unterscheidung hat nur in diesem System Gültigkeit.
Ein Medium kann nur ein Medium in der Differenz zu einer Form, und umgekehrt, sein. Form ist dabei nicht die Gestalt eines Objektes, sondern die Unterscheidung des Objektes zu seiner Umgebung. Die Differenz bleibt auch in der Verwendung erhalten und reproduziert sich ständig neu.
Luhmann versteht unter Form die "Markierung einer Unterscheidung" (Luhmann 1997a, S.198), folglich ist die Medium/Form-Unterscheidung eine (zweiseitige) Form. Eine der Seiten ist die sich selbst enthaltende Formseite, die andere die bereits getroffene Medium/Form-Unterscheidung. Diese Paradoxie ist nicht zu umgehen.

Innerhalb der Unterscheidung von Medium und Form ist eine weitere Untergliederung in lose und strikt gekoppelte Elemente vonnöten. Medien bestehen aus lose gekoppelten Elementen (z.B. Sprache), die in fester Koppelung zur Form (z.B. Texte) zusammengefügt werden. In der Kommunikation werden lose gekoppelte Worte in Sätzen gebunden und bei jeder neuen Verwendung reproduziert. Die Worte werden dabei nicht verbraucht, sondern sind beliebig oft verwendbar.
Das autopoietische System bindet das "eigene Medium zu eigenen Formen" (Luhmann 1997a, S.197), ohne die Systemelemente (Medien) dadurch zu verbrauchen. Die Elemente können gekoppelt und wieder entkoppelt werden, sie bleiben dadurch ständig im System in Bewegung.

Wichtig bei der Medium/Form-Unterscheidung sind folgende Gesichtspunkte:
Die Form setzt sich gegenüber dem medialen Substrat durch, wofür sie Zeit und sich selbst verbraucht. Ebenso ist strikte Koppelung stärker als die lose. Das Medium lässt sich ohne Widerstand formen, dafür aber ist die Form instabil.
Somit ist das Medium beständiger als die Form, da es nur eine lose Koppelung benötigt. Die Form erhält sich nur in der Speicherung durch Gedächtnis, Schrift und Bücher; was nicht oft zur Formbildung herangezogen wird, geht verloren. Die Form kann bewahrt werden, aber die Medien bleiben immer für ständig neue Kombinationen frei.
Es muss aber auch berücksichtigt werden, dass die lose gekoppelten Elemente allein, im System nicht verwendet werden können. Medien sind ohne genaue Abgrenzung nicht in der Lage, einen Inhalt zu vermitteln, sie brauchen dazu erst eine bestimmte Form. Im Kommunikationsmedium Sprache bilden Worte erst innerhalb von Sätzen einen Sinn, der für die Autopoiesis der Kommunikation entscheidend ist.


5. Der Sinnbegriff
in der Medium / Form-Unterscheidung

In einer ersten Beschreibung lässt sich Sinn als sinnhaftes Erleben und Handeln bezeichnen. Eine weitere allgemeine Bezeichnung von Sinn als "Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität sinnhaften Erlebens und Handelns" (Krause 2001, S.88) ist möglich. "Wenn Sinn die Einheit der Differenz ist, dann kann man diese Einheit der Differenz durch eben jene Einheit bezeichnen, die die Einheit von Medium und Form ist" (Jahraus 2001, S.323). Somit kann Sinn als Medienbegriff durch die Medium/Form-Differenz ersetzt werden.
Sinn ist Medium und Form, und in dieser Hinsicht ergibt sich Sinn durch die Feststellung einer Unterscheidung. Sinn ist die Bedeutung, die irgend etwas für einen Beobachter hat. Er ist eine objektive, vom Beobachter abhängende Größe.
Das Medium Sinn dient der Formenbildung innerhalb psychischer und sozialer Systeme. Sinn selbst bildet aber kein System. So ist Sinn das "allgemeinste Medium" (Luhmann 1997b, S.173), da es psychische und soziale Systeme möglich und ihre gegenseitige Durchdringung sichtbar macht. Sinn wird zugleich zum universellen Medium, da es "ohne Sinn kein Bewusstsein und keine Kommunikation" (Krämer 1998) gibt.


6. Der Begriff des Re-entry

Der Begriff entstand aus der Frage, ob eine Unterscheidung, "die in sich wieder vorkommt und anders gar nicht vorkommen kann, dieselbe oder nicht dieselbe Unterscheidung" (Luhmann in Jahraus 2001, S.246) ist.
Re-entry bedeutet eine "Wiederholung einer Unterscheidung innerhalb einer Unterscheidung" (Krause 2001, S.191) und steht in engem Zusammenhang mit der Paradoxie. So ist zum Beispiel die Unterscheidung von Medium und Form selbst eine Form. Oder aber Sinn, als " Medium eine Form, die Formen konstituiert, damit sie Form sein kann" (Luhmann 1997b, S.174). Man kann aber auch sagen, dass das Medium "auf der Ebene seiner Elemente" selbst eine Form ist, "weil unterschiedliche Elemente unterschiedliche Medien bilden" (Luhmann in Jäger/Switalla 1994, S.412).


7. Zum Verhältnis von Oralität und Literalität

Sprache kann als grundlegendes Kommunikationsmedium angesehen werden.
Luhmann unterscheidet zwischen Laut- und Schriftform der Sprache und er vermutet, "dass es nicht möglich ist, mündliche Kommunikation in die Form eines schriftlichen Textes zu bringen" (Luhmann 1997a, S.254). Es ist unmöglich den Ablauf einer Kommunikation (sprechen und zuhören) schriftlich zu fixieren, nur der Sinn der Kommunikation lässt sich festhalten. Oralität zeichnet sich durch Beschleunigung, Pausen, Spannungsaufbau, Laute und gemeinsames Erleben aus (Luhmann 1997a, S.255).
Schrift wurde auch nicht zum "Zweck der Kommunikation" (Luhmann in Jäger/Switalla 1994, S.407) erfunden, sondern zum Beispiel als Gedächtnisstütze oder als Hilfe bei der Verwaltung großer Haushalte. Trotzdem begreift Luhmann die Schrift als Kommunikationsmedium. Ein Gebrauch der Schrift als Kommunikationsmittel setzt allerdings verbreitete Literalität voraus.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Kommunikation noch immer als mündliche Kommunikation angesehen, da es nicht einfach ist, bei schriftlicher Kommunikation festzulegen, wann Kommunikation stattfindet. Luhmann betont, dass schriftliche Kommunikation nicht beim Schreiben oder Lesen zustande kommt, sondern erst beim verstehen (des Textes).
Sollen die Kommunikationsprozesse einer Gesellschaft analysiert werden, stellen die Verbreitungsmedien (Schrift, Buchdruck, elektronische Medien) den Ausgangspunkt dar. Verbreitungsmedien trennen Information, Mitteilung und Verstehen in zeitlich unabhängige Vorgänge und verhindern somit ein sofortiges Reagieren der Beteiligten. Der Kreis der Kommunikationsempfänger wird durch die Verbreitungsmedien festgelegt und erweitert. Verbreitungsmedien gleichen also nicht die "verloren gegangene Nähe oraler Kommunikation" (Krämer 1998) aus, sondern schaffen etwas Neuartiges, für das es in der Oralität kein Vorbild gibt.

Die Form der Sprache ist eine "Differenz von Laut und Sinn" (Luhmann 1997a, S.255). Um sprechen zu können muss man mit dieser Unterscheidung umgehen können. Sprachliche Kommunikation ist also "prozessieren von Sinn im Medium der Lautlichkeit" (Luhmann 1997a, S.213). Zuerst existiert das Medium als lose gekoppelte Worte, die für sich selbst einen Sinn generieren. Doch erst in der Zusammenstellung zu Sätzen eignen sich diese Wörter für die Kommunikation. Durch die Sprache ist es möglich, zwischen Realität und Bezeichnendem zu unterscheiden, das heißt es gibt eine Differenz zwischen Wörtern und den Dingen, die sie beschreiben. Sprache lässt eine Differenzierung von Medium und Form möglich werden.
Die zu koppelnden Elemente eines Mediums müssen auch noch in gebundener Form erkennbar bleiben, da sie z.B. als Buchstaben selbst, auch eine Information enthalten. Texte als Formbildung enthalten Informationen, die Varietät, in Form von Interpretationen, gewährleisten. Jeder ist beim Zuhören und Lesen dazu angehalten, sich neue Variationen zu überlegen und neue Formen zu bilden. Bei der Neubildung von Formen wird das Medium nicht verbraucht, sondern in immer neuen Möglichkeiten dargestellt. So können die Medien "Laute", "Worte" oder "Schrift" in Form der "Märchen" oder bezeichnender "Textgattungen" immer wieder neu definiert und gekoppelt werden.
Es ist dabei zu beachten, dass nicht die Laute einer Sprache, sondern deren Unterschiede schriftlich festgehalten werden. Schrift als System muss daher alle möglichen Lautdifferenzen wiedergeben können. "Während die Sprache ganz allgemein ihre Form als Differenz von Laut und Sinn findet, ermöglicht die Schrift eine Symbolisierung genau dieser Differenz in einem anderen Wahrnehmungsmedium, im Medium der Optik" (Luhmann 1997a, S.255). In diesem Zusammenhang bedeutet Symbolisierung Formbildung. Durch die Schreiben und Lesen erst möglich wird, da nicht mehr "zwischen Laut und Sinn, sondern nur zwischen Buchstabenkombinationen und Sinn unterschieden werden muss" (Luhmann 1997a, S.256).


8. Literatur

  • Hohm, Hans-Jürgen: Soziale Systeme, Kommunikation, Mensch. Eine Einführung in soziologische Systemtheorie. Weinheim und München: Juventa Verlag 2000.
  • Krämer, Sybille: Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form?. www.userpage.tu-berlin.de/~sybkram/medium/kraemer2.html (14.10.2001). Zuerst erschienen in: Rechtshistorisches Journal 17. 1998. S.558-573.
  • Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. 3. Auflage. Stuttgart: Lucius und Lucius 2001.
  • Luhmann, Niklas: Aufsätze und Reden. Hg. v. Oliver Jahraus. Stuttgart: Philipp Reclam Verlag 2001.
  • Luhmann, Niklas: Die Form der Schrift. In: Germanistik in der Mediengesellschaft.
    Hg. v. Ludwig Jäger und Bernd Switalla. München: Wilhelm Fink Verlag 1994.
  • Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997. (a)
  • Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997. (b)


Anfang | Unsere Seminararbeit
Sitzungen-München | Themen
Literatur | Home