Georg Jäger und Claus-Michael Ort
Systemtheoretische Medienkonzeptionen



Luhmanns Systemtheorie
als Metaphysik


Wer im 20. Jahrhundert auf dem akademischen Markt Theorieangebote lanciert, tut gut daran, sie nicht als "Metaphysik" zu deklarieren. Metaphysik wird von der Mehrheit der Teilnehmer an geisteswissenschaftlichen und feuilletonistischen Diskursen als anrüchig oder jedenfalls unseriös empfunden. Im ersten Fall erscheint sie als Inbegriff eines obsoleten, religiös motivierten Philosophierens, im zweiten Fall als Muster unwissenschaftlichen: dogmatischen oder spekulativen Philosophierens. Worin aber anderseits die gute, die moderne oder wissenschaftliche Methode besteht und wie sie sich von der metaphysischen abgrenzen lässt, ist nicht klar.

Tatsächlich wird in den meisten metaphysikkritischen Diskursen nicht einmal eine Definition für "Metaphysik" angegeben. Kantisch ist jede Theorie, die über Erfahrung hinausreicht (d.h. alle Theorie außerhalb der Naturwissenschaften) metaphysisch. Diese Auffassung entspricht auch dem griechischen Wortsinn von "Meta-Physik". Die Systemtheorie ist so gesehen offenbar Metaphysik. Dieser schwache Begriff von Metaphysik taugt aber nicht zur wertenden Abgrenzung verschiedener geisteswissenschaftlicher Theorien. Wenn alle Theorien gleichermaßen Metaphysik sind, muss man sie unterschiedslos verwerfen (oder bejahen).

Ich schlage vor, als "metaphysisch" diejenigen Theorien zu bezeichnen, die hinsichtlich mehrerer nicht-trivialer Eigenschaften mit den als exemplarisch metaphysisch angesehenen Theorien der Tradition übereinstimmen, z.B. den Theorien von Aristoteles oder Kant. Solche Eigenschaften sind z. B.:

  • der Systemgedanke,
  • der Idealismus,
  • Naturverachtung und
  • Empirieferne.
Man kann, glaube ich, zeigen, dass Luhmann in diesem spezifischen Sinn Metaphysiker ist – und das trotz gegenteiliger Beteuerungen. Der Zauber, den die Systemtheorie ausüben kann, beruht – pointiert gesagt – auf einer Täuschung.

Zunächst eine Feststellung, die die These vom metaphysischen Charakter der Systemtheorie plausibel machen soll: Luhmann wird in erster Linie im deutschen Sprachraum rezipiert, viel weniger in England und Amerika. Das kann man nicht damit erklären, dass Luhmann Deutsch schreibt. Andere deutsche Autoren, v.a. Habermas, werden im englischen Sprachraum durchaus gelesen. Offenbar interessiert in der angelsächsischen Welt die Art von Denken, die Luhmann vertritt, nicht. Luhmanns Denkstil scheint "typisch deutsch" oder jedenfalls "typisch kontinental" zu sein.

Worin unterscheidet sich die kontinentale (oder speziell deutsche) von der angelsächsischen Philosophiekultur?

Eine einleuchtende (und historisch belegbare) Antwort lautet: In England und Amerika ist seit dem 18. (bzw. 20.) Jahrhundert die Metaphysik inexistent. In Kontinentaleuropa (und speziell in Deutschland) waren anderseits Autoren bis ins 20. Jahrhundert von metaphysischen Fragestellungen besessen. In England setzt "Metaphysikkritik" schon in der frühen Neuzeit mit Ockham und Bacon ein. In Deutschland ist Metaphysik noch bei Heidegger und Adorno ein zentrales Thema. Wenn Luhmann in Deutschland Begeisterung auslöst, in Amerika aber auf Desinteresse stößt, dann deutet das auf ein metaphysisches Gepräge der Systemtheorie hin.

Ich versuche jetzt, einige Gemeinsamkeiten von klassischer Metaphysik und Systemtheorie zu beschreiben.


1. Der Systemgedanke

Der Anspruch, Theorie in systematischer Form zu betreiben, entstammt demselben geistigen Milieu wie die Metaphysik. Erst Aristoteles, der "Erfinder" von Metaphysik, versucht, die Gesamtheit des Wirklichen in zusammenhängender Form darzustellen. Noch Plato war diese Idee fremd. Seine Texte bieten ein dialogisch inszeniertes Gedankentheater ohne Anfang, ohne Zentrum und Ende. Der "Traktat", die zielgerichtete, erschöpfende Argumentation wird erst von Aristoteles kreiert.

Luhmanns Unternehmen ist dezidiert metaphysisch in seinem Anspruch, die gesamte Welt innerhalb einer Theorie zu beschreiben. Dass Luhmann selber sich auf die soziale Welt beschränkt, schließt nicht aus, dass die Systemtheorie auf die Natur ausgedehnt wird. Mehr noch: Die Systemtheorie übertrumpft Aristoteles. Die Welt wird auf ein extrem knappes Vokabular reduziert, gleichsam (hegelisch gesprochen) auf den Begriff gebracht. Wenn es Luhmann gelingt, die Fülle der Wirklichkeit mit Hilfe einiger weniger Begriffe wie "System", "Differenz", "Umwelt" darzustellen – und diese Begriffe sind miteinander verbunden, gleichsam ein einziger begrifflicher Komplex –, dann gehen die kühnsten Träume der Metaphysiker in Erfüllung


2. Idealismus

Oft wird behauptet, die Systemtheorie sei deswegen keine Metaphysik, weil sie nicht Ontologie sei: weil sie nicht den objektiven Bestand der Wirklichkeit beschreibe, sondern Konstruktionen von Beobachtern. Hier liegt ein Missverständnis vor. Konstruktivismus und Metaphysik schließen sich keineswegs aus. Konstruktivismus ist vielmehr ein Sonderfall von Metaphysik. Konstruktivismus ist subjektiver (oder "intersubjektiver", "sozialer") Idealismus.Der deutsche Idealismus hat es Luhmann vorgemacht: Kant, Hegel, Fichte und Schopenhauer beschreiben, wie sich Bewusstsein seine Welt schafft. Luhmann gibt zwar das mentalistische Vokabular: die Rede vom Bewusstsein auf, nicht aber den idealistisch-demiurgischen Ansatz.

Zugunsten Luhmanns ist zu sagen, dass er anders als die genannten Autoren die Kontingenz der eigenen Theorie anerkennt: die eigene Theorie unter die "Konstruktionen" von Welt rechnet. Allerdings scheint es sich dabei um ein Lippenbekenntnis zu handeln: Wenn Idealismus / Konstruktivismus nur eine unter anderen Theorieoptionen wäre, dann gäbe es keinen Grund, an der Systemtheorie festzuhalten. Warum verfolgt Luhmann jahrzehntelang diese eine Theorieoption, wenn nicht deshalb, weil sie ihm richtiger, adäquater, explikativer als andere erscheint. Eine Theorie kann den Anspruch auf Wahrheit: auf Übereinstimmung mit der Welt preisgeben, ein Theoretiker (der nicht resignieren will) – und sei er Konstruktivist – nicht.

"Konsistenz" reicht nicht aus, eine Theorie zu qualifizieren: Auch inhaltsleere Nonsenskonstruktionen können konsistent: formallogisch korrekt formuliert werden. Und ob das Kriterium der "Viabilität" auf die Systemtheorie angewandt werden kann, ist fraglich: Die Beziehung zur (politischen oder Lebens-) Praxis wird von Luhmann ausdrücklich bestritten: Praktische Viabilität kann also nicht gemeint sein. Ob theoretische Viabilität aber ohne den Wahrheitsbegriff gedacht werden kann, ist fraglich. Jedenfalls ist für Luhmann Theorie Selbstzweck: Darin ist dem griechischen Denken verpflichtet. Dass Theorie unabhängig von Praxis Sinn haben kann, ist eine Figur der griechischen Metaphysik. Der Systemtheoretiker vollzieht eine Lebensform, die am prägnantesten Aristoteles in der Nikomachischen Ethik formuliert hat.


3. Naturverachtung und Empirieferne

Metaphysiker unterstellen, dass die Welt im wesentlichen aus geistigen Entitäten besteht. Auch die Begriffe "System", "Differenz", "Umwelt" bezeichnen Geistiges. Luhmann hält den materiellen Aspekt der Welt offenbar nicht für würdig (oder fähig), beschrieben zu werden. Außerdem favorisiert er eine Weise der Theoriebildung, die sich von Empirie dezidiert abgrenzt.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es nicht von der Welt abhängt, welche Entitäten als Systeme dargestellt werden. Die Natur (bzw. die Erfahrung) wird nicht als Prüfstein der Theoriebildung anerkannt. Dass sie theorieextern als praktischer Prüfstein der Theoriebildung anerkannt wird, dass die Systemtheorie sich selbst als Evolutionprodukt darstellt, gleicht diesen Mangel nicht aus: Die Systemtheorie stellt keine Begriffe zur Verfügung, die helfen, Natur in ihrem materiellen Aspekt zu erfassen. Ihre "freischwebende" Geistigkeit weist die Systemtheorie als Erbin der metaphysischen Tradition aus.


Kann sich Derrida von der Metaphysik emanzipieren?

Derrida scheint der Metaphysik näher zu sein, weil er sich ausdrücklicher auf Autoren wie Plato, Aristoteles, Kant bezieht; auch sein kryptischer Stil ist offenbar einschlägig. Aber in mancher Hinsicht hat er sich von der Metaphysik weiter als Luhmann entfernt:

  1. Der systematische Anspruch fehlt. Derrida äußert sich in der Textgattung "Essai".
  2. Derrida unterläuft die idealistische / konstruktivistische Orientierung, indem er die Souveränität des Bewusstseins / des Beobachters "dekonstruiert": die Fehlleistungen der Konstruktionen von Welt betont und zeigt, wie das Reale den Rahmen der Konstruktion sprengt.
  3. Derrida setzt mit Schlagworten wie "Materialität der Schrift" die Natur und den Körper gegenüber den freischwebenden Beobachtern und Systemen ins Recht.
  4. Derrida ist sensibel gegenüber dem philosophischen Sprachgebrauch, beachtet die metaphysischen Konnotationen scheinbar harmloser Ausdrücke. Luhmann verstrickt sich mit der Rede vom "Beobachter" in die optische Metaphorik der theologischen und rationalistischen Tradition.

Es geht nicht darum, die Systemtheorie zu diskreditieren. Sicherlich ist sie in mancher Hinsicht anderen Theorieangeboten überlegen. Und sicherlich wirken einige der hier vorgestellten Beschreibungen idiosynkratisch, forciert. Es geht lediglich darum zu zeigen, dass die Systemtheorie weniger ausschließlich "Avantgarde" ist, der Tradition näher ist, als es scheint. Man kann die Systemtheorie historisieren. Vielleicht auf geschicktere Weise als der vorliegende Text.


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