Georg Jäger und Claus-Michael Ort
Systemtheoretische Medienkonzeptionen
Systemtheorie und Dekonstruktion
im Vergleich
Ein Standpunkt, von dem aus einige Aspekte sowohl der Systemtheorie als
auch der Dekonstruktion beobachtet werden können, ist nicht ohne weiteres zu
finden. Streng genommen ist ein archimedischer Punkt außerhalb der
Supertheorien nicht erreichbar. Im folgenden wird daher mit dem Werkzeug der
Systemtheorie operiert.
1. Konvergenzen
1.1 Sinn (Luhmann)
Luhmann versteht unter Sinn die Einheit der Differenz von Aktualität und
Potentialität. Als Universalmedium, in dem sich jede Formbildung zwangsläufig
vollzieht, ist Sinn Medium und zugleich Form seiner selbst und damit
unhintergehbar ein differenzloser Begriff wie Welt oder Gesellschaft.
Durch Treffen jeder Unterscheidung wird Komplexität reduziert, zugleich eine
Form gebildet und Sinn prozessiert, so dass immer zugleich Komplexität
aufgebaut und damit die Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion erhalten wird.
Sinn besteht nur in seinem je aktuellem Vollzug. In jeder Unterscheidung im
Medium Sinn ist (durch ständig mitlaufende Selbstreferenz) zugleich der
Verweis
auf nichtaktualisierte Anschlussoperationen enthalten die getroffene
Unterscheidung erweist sich für einen Beobachter zweiter Ordnung als
kontingent.
Sinn, der in zweiter Ordnung beobachtet wird, erscheint als Paradox, da Sinn
selbst nur im Medium Sinn wieder gefasst werden kann; die Beobachtung einer
Unterscheidung ist wiederum eine Unterscheidung, die Unterscheidung zwischen
der Paradoxie und ihrer Entfaltung greift selbst auf das Medium Sinn zurück.
Aufgelöst werden kann das Paradox nur durch den Vollzug der Selektionen und
Anschlussselektionen in der Zeit. Sinnhaftes Prozessieren vermag von
Sinnsystemen niemals ganz eingeholt werden, ein Rest bleibt stets unsichtbar.
1.2 Différance (Derrida)
Dekonstruktion ist im allgemeinen bestrebt, sich selbst in ihrer Praxis zu
dekonstruieren.
Statt dessen soll versucht werden, diesen Ansatz systemtheoretisch
zu rekonstruieren.
Derrida dekonstruiert die Differenz von Signifikant und Signifikat radikal;
Signifikat zeichnet sich durch nichts anderes aus, als dadurch, nicht
Signifikant zu sein. Für Signifikanten gilt gleichermaßen: Ein Zeichen ist,
was es ist, nur dadurch, dass es nicht ist, was es nicht ist; es ist nur in
der Differenz zu allen anderen Zeichen, Sprache wird zu einem unabschließbaren
Verweisungsspiel.
Bedeutung konstituiert sich nur im gegenseitigen Referieren der Signifikanten
aufeinander; Zeichen können nur Differenzen bezeichnen.
Différance bezeichnet die Unterscheidung von Präsenz und Supplementarität, die
Differenz urimpressionaler Wahrnehmung und der nachträglichen, zeitversetzten
Wahrnehmung dieser eben vollzogenen Wahrnehmung bzw. ihrer defizitären
Repräsentation im Zeichen.
In der Beobachtung dieses Vorgangs vollzieht sich wiederum différance sie
erweist sich als unhintergehbar. Um nicht selbst in metaphysisches Denken zu
verfallen, begreift die Dekonstruktion différance nicht als feststehendes
Konzept, sondern als Praxis, die sich allein im zeitlichen Vollzug realisiert.
Ursprung als erste Unterscheidung mutiert zur uneinholbaren Urspur der immer
schon vollzogenen Differenzen.
Offenbar weisen beide Supertheorien bemerkenswerte Strukturkonvergenzen auf.
Différance als die Einheit der Differenz von aktualisiertem Signifikant und
allen anderen, aktuell nicht realisierten Signifikanten lässt sich auf das
abbilden, was die Systemtheorie unter Sinn fasst: Sinn ist die Einheit der
Differenz von aktualisierter Unterscheidung und nicht-aktualisierten, aber
möglichen Selektionen. Kurz gesagt Sinn wie différance lassen sich begreifen
als unhintergehbare und selbst differenzlose Einheit der Differenz von
Aktualität
und Potentialität.
2. Differenzen
2.1 Fragestellung und Vorgehensweise
Dekonstruktion setzt sich zum Ziel, bestehende Ordnungen, speziell die von ihr
als metaphysisch begriffenen, zu unterlaufen. Dabei wählt sie beliebige
Unterscheidungen aus, die sie in einem ersten Schritt als hierarchische
Oppositionen identifiziert, um sie dann in einem zweiten Schritt zu
dekonstruieren, d. h. sie weist das Wirken von différance nach, indem sie die
der Opposition zugrundeliegende asymmetrierende Unterscheidung auf die eine
Seite ihrer eigenen Zwei-Seiten-Form anwendet und so die paradoxe
Grundstruktur
der Ausgangsselektion, aber auch die paradoxe Grundstruktur ihrer eigenen
Beobachtung aufdeckt ("zentripetale" Argumentation). Damit zielt
Dekonstruktion
in gewisser Weise auf Unordnung.
Systemtheorie dagegen setzt beim Erstaunen über das Be- und Entstehen von
Ordnung an, deren Vollzug in einer komplexen Welt an sich unwahrscheinlich
ist.
Unter Verwendung des Formenkalküls von George Spencer Brown geht sie von der
Paradoxie als Basis ihres Denkens aus, um sie gemäß des Brownschen Diktums
"Draw a distinction!" in der Zeit immer weiter zu entfalten, indem sie
Unterscheidungen und Anschlussunterscheidungen trifft ("zentrifugale"
Argumentation). - Die >Richtungen< der Argumentationen von Dekonstruktion
bzw. Systemtheorie verlaufen folglich genau entgegengesetzt.
2.2 Selbstreferentialität
Als Supertheorien sind sowohl Dekonstruktion als auch Systemtheorie genuin
selbstreferentiell, wenn sie sich selbst auch nie ganz einzuholen vermögen;
die Dekonstruktion dekonstruiert sich in ihrer Praxis fortlaufend selbst; sie
entfaltet große Erzählungen, um diese stets sofort wieder durchzustreichen.
Die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metaebene wird nivelliert; beide
Ebenen fallen zusammen, weshalb auch keine Aussagen über die kontingente
(und von der Dekonstruktion permanent als solche reflektierte) Entstehung
zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur
der Theorie selbst gemacht werden können und auch gar nicht beabsichtigt sind.
Systemtheorie dagegen schließt sich nicht nur selbst ein, sondern erläutert
auch die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit ihres
eigenen Entstehens wie auch die der Dekonstruktion. Beide Supertheorien bilden
den vorläufigen Höhepunkt der Reaktion der gesellschaftlichen Semantik auf die
funktionale Ausdifferenzierung in der Moderne, in der Theorien nicht länger
versuchen, eine verloren gegangene Einheit theoretisch wiederherzustellen,
indem sie auf die eine oder andere Weise die Frage zu beantworten suchen, was
denn die Gesellschaft sei. Stattdessen fragen sie, wie die Gesellschaft
funktioniert (Systemtheorie) bzw. welche Leitdifferenzen (gefasst als binäre
Oppositionen) ihr zugrunde liegen (Dekonstruktion).
Dekonstruktion vermag diesen und andere evolutionäre Prozesse nicht zu
erklären und will es auch gar nicht. Systemtheorie dagegen macht es sich zur
Aufgabe, mit Hilfe des Evolutionsgedankens die Entwicklung von Sinnsystemen zu
beobachten.
2.3 Reichweite
Dekonstruktion beschäftigt sich ausschließlich mit Zeichensystemen;
Systemtheorie dagegen geht es um Unterscheidungen allgemein. Man könnte sie
insofern als Radikalisierung der Dekonstruktion beobachten.
2.4 Stil und Gestus
Dekonstruktion dekonstruiert konsequenterweise auch den Unterschied zwischen
Spiel und Wissenschaft. Dementsprechend pflegt sie einen nicht um Klarheit
und Nachvollziehbarkeit der Argumentation bemühten Stil; vielmehr kommt
gerade in ihrem zeitweise opaken Sprechen ihre Intention zum Tragen: Sie
konzentriert sich in erster Linie auf die Mitteilungsseite von Kommunikation,
um so die prinzipielle Unmöglichkeit der eigenen Rede zu inszenieren. Die
Prämissen der Dekonstruktion werden von ihr verwischt. Entsprechend
beschreibt sie sich selbst nicht als wissenschaftliche Methode, sondern als
mehr oder weniger politische Praxis, mit der bestehende, ungerechte
Hierarchien subversiv untergraben werden sollen (was streng genommen wiederum
nicht möglich ist...).
Systemtheorie dagegen stützt sich vor allem auf die Informationsseite von
Kommunikation; als Teil des Wissenschaftssystems versteht sie sich als
Theorie, die mit anderen Supertheorien (etwa der Dekonstruktion) um eine
treffende Erklärung der Funktionsweisen von Gesellschaft bemüht ist. Folglich
ist ihr Stil zwar durch tautologische Formulierungen, durch die die zugrunde
liegende Paradoxie verdeutlicht wird, aber auch durch klare Argumentation und
Offenlegung der eigenen Prämissen gekennzeichnet.
3. Fazit oder "Systemtheorie dagegen..."
Im Prinzip kann sowohl die Systemtheorie dekonstruiert als auch die
Dekonstruktion systemtheoretisch reformuliert werden. Letzteres führt zu
folgendem Resultat:
Beide Ansätze präsentieren sich als bisher letzte Umstellung der
gesellschaftlichen Semantik nach der Ausdifferenzierung zur modernen
Gesellschaft, sie referieren beide auf dasselbe Problem. Différance als
Sachverhalt wird sowohl von der Dekonstruktion, als auch von der
Systemtheorie festgestellt und in der Konsequenz vollzogen.
Wenn dem so ist, besteht aus Sicht der Systemtheorie jedoch kein Grund, diese
Einsicht permanent zu reproduzieren, indem immer noch mehr Texte auf ihre
paradoxe Grundstruktur rückgeführt und damit das Wirken der différance ein
weiteres Mal diagnostiziert werden kann. Auf den Einwand, différance könne
nicht als Erkenntnis (also nicht als Begriff) fest-gestellt werden, da sie
immer nur im fortlaufenden Prozess und auch hier niemals ganz greifbar werde
(und aus diesem Grund bestehe die einzige Möglichkeit darin, sie als Praxis
in Szene zu setzen), lässt sich entgegnen, wozu eine solche Inszenierung von
Nutzen sein sollte, wenn nicht eben gerade dazu, auf das Wirken der
différance aufmerksam zu machen.
Systemtheorie dagegen kann, ausgehend von der Differenz und deren différance,
weitere Unterscheidungen treffen und Wissenschaft betreiben.
Damit könnte man Dekonstruktion beobachten als ein Denken im Ende der
Metaphysik, Systemtheorie dagegen u.U. als ein Denken nach dem Ende der
Metaphysik.
Literatur
- de Berg, Henk/ Prangel, Matthias (Hg.): Differenzen. Systemtheorie
zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Tübingen: Francke 1995
- Derrida, Jaques: Grammatologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974
[1967]
- Jahraus, Oliver: Theorieschleife. Systemtheorie, Dekonstruktion
und Medientheorie. Wien: Passagen 2001
- Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp 1997
- Ders.: Soziale Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984