Georg Jäger und Claus-Michael Ort
Systemtheoretische Medienkonzeptionen



Literatur als Medium

Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation.
Zur systemtheoretischen Konzeption und Fundierung eines Medienbegriffs für die Literatur seit dem 18. Jahrhundert

Habilitationsschrift, Bamberg 2001,
erscheint bei Velbrück, voraussichtlich Herbst 2002




Vorstellung des Projekts und markanter Diskussionspunkte


1. Selbstverständnis der Arbeit:

Das Projekt versteht sich als medien- und literaturwissenschaftliche Grundlagenarbeit, die einen basalen Medienbegriff für die Literatur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konstruiert. Die Fundierung dieses basalen Medienbegriffs wird dabei zwar an der Literatur als Medium maßgeblich exemplifiziert, doch gehen beide Bereiche (Medienbegriff und Literaturbegriff) ineinander über und bedingen sich wechselseitig: Die Darstellung der Literatur als Medium erfolgt im Zuge der Fundierung eines basalen Medienbegriffs, so wie umgekehrt ein basaler Medienbegriff sich überhaupt nur mit der Zielrichtung der Literatur fundieren läßt. Der wechselseitige Bezug der beiden Pole der Arbeit, Medienbegriff und Literaturbegriff, spannt so eine Argumentationslinie auf, deren Fortführung sich als Begründungsverfahren versteht; ist in diesem Verfahren der Literaturbegriff erreicht, schließt sich der Kreis: Literatur als Medium zu begründen, heißt, das Medium als Literatur zu entfalten.

Allein aus dieser methodischen Anlage der Arbeit ergibt sich die Möglichkeit prognostischer Aussagen über Literatur in der Medienkonkurrenz (Kap.1). Das Hauptinteresse liegt jedoch in der Bedeutung des Medienbegriffs für den literarhistorischen und literaturwissenschaftlichen Bereich (Kap.7/8).

2. Zielvorgaben:

In diesem Projekt geht es darum, Interpretation, Literatur und Medien auf der Grundlage moderner und avancierter Theoriestandards und mit Rückgriff auf Bewußtsein und Kommunikation als basale Begründungs- und Fundierungsebenen in Beziehung zu setzen. Zweck dieses Projekts ist es, eine Fundierung zu entwerfen, auf der Literatur im Medienverbund betrachtet und Literaturwissenschaft als Medienwissenschaft betrieben werden kann; sein Ziel ist es, Literatur als Interpretationsmedium mittels einer Theorieskizze zwischen Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft in einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive darzustellen. Seine Hauptaufgabe besteht darin, einen Medienbegriff zu entwerfen, der die Sinndimension und das Interpretationspotential, das die Literatur – mit Blick auf die deutschsprachigen Literaturverhältnisse – seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts charakterisiert, als mediale Konstituenten erfassen kann. Es geht grundsätzlich davon aus, daß eine "medienorientierte Neuausrichtung der Geisteswissenschaften [...] unumgänglich" (Dirk Matejovski) ist; sie ist rein systematisch-theoretisch ausgerichtet, wenn auch mit einer historischen Perspektivierung, und verfolgt dabei eine stringente Argumentation, Literatur als Interpretationsmedium zu fundieren:

3. Struktur der Arbeit:

Ein Überblick über medientheoretische Anstrengungen auf dem Gebiet der allgemeinen Medienwissenschaft und der Literaturwissenschaft im besonderen zeigt, daß bislang keine medientheoretische Grundlagentheorie vorliegt, die notwendig wäre, um eine intendierte Medientheorie der Literaturwissenschaft (Literatur als Medium) fundieren zu können (Kap.1).

Die Argumentationslinie der Arbeit entfaltet zunächst das Bewußtsein als Letztbegründungsebene mit ihren Paradoxien und Aporien (Kap.2), erweitert diese um Kommunikation im entparadoxierten Modell der strukturellen Kopplung (Kap.3), bezieht strukturelle Kopplung auf Sinn als basales Medium (Kap.4), entwickelt Interpretation als sinnbasierten Medienprozeß und geht auf dieser Basis auf den Zusammenhang von Interpretation und Semiose bzw. Medialität und Semiotizität auf der Grundlage einer reflexiv gewendeten Wahrnehmung ein (Kap.5), skizziert Schrift und Textualität als grundlegende Medienformen für Interpretation (Kap.6), um sodann zwei Ergebnisse zu extrapolieren:

(1) Literatur in ihrer Konfiguration seit dem 18. Jahrhundert ist eine Medienform, die die Disposition zur Interpretation paradigmatisch und exemplarisch entfaltet und dabei die Erfahrung des Mediums Literatur als Subjektivitätserfahrung erzeugt und erlaubt (Kap.7); und (2): Literaturwissenschaft läßt sich in ihren theoretischen Positionen systematisch als eine Konstellation rekonstruieren, in der konstitutive Aspekte des Mediums – bislang zumeist ohne Medienbegriff – jeweils unterschiedliche Interpretationstheorien begründet haben (Kap.8), wobei abschließend eine ethische Dimension der Literaturwissenschaft entwickelt wird: Literatur als Medium eröffnet die Disposition zur Interpretation von Sinn immer nur in dem Maße – eben aufgrund seiner Medialität –, wie sie Sinn auch entzieht. Literaturwissenschaftliche Interpretation ist die geordnete Handhabung der medial begründeten Differenz von Interpretierbarkeit und Uninterpretierbarkeit von Literatur. Unter dieser Perspektive ersetzt Medientheorie somit nicht die Literaturwissenschaft, sie wird aber zur Metatheorie von Interpretationstheorie.

Die Arbeit hat folgende Kapitelfolge, die zugleich den Argumentationsgang relativ genau widerspiegelt:

  1. Einleitung: Das medientheoretische Defizit der Literaturwissenschaft

  2. Das Bewußtsein als Letztbegründungshorizont einer literaturbezogenen Medientheorie

  3. Kommunikation und das systemtheoretische Theorieelement der strukturellen Kopplung mit Bewußtsein

  4. Medien und Differenz

  5. Wahrnehmung, Interpretation und Zeichen

  6. Stimme, Schrift und Text

  7. Literatur als Medium und Mediensystem (Interpretation, Sinn, Subjektivität, Moderne, Lyrik als Paradigma)

  8. Interpretation und Literaturwissenschaft

4. Projektdesign und Methodik (Kap.2-5):

In der Grundlegung des Projekts geht es darum, die Konzepte von Bewußtsein, Kommunikation, Medium und Sinn in das Begründungsverfahren einzuordnen. Gerade und prinzipiell die Luhmannsche Systemtheorie stellt für ein solches Unternehmen ein hoch auflösendes und rekombinationsfähiges Begriffsinventarium zur Verfügung, dessen Differenzierung und Redifferenzierung – in allererster Linie die Differenzierung von Bewußtsein und Kommunikation oder von Medium und Form – es erlaubt, die Konzepte in eine tragfähige Argumentation zu bringen.

Die Fundierungsebene für Medialität ist Bewußtsein. Im Unterschied zu Kommunikation stellt Bewußtsein als Fundierungsebene zugleich die Letztbegründungsebene dar.

"Als Letztbegründungsebene wird hierbei eine Fundierungsebene verstanden, die im Versuch, sich selbst zu fundieren, immer nur die eigene Fundierungsleistung autoreflexiv wiederholen kann." (S. 91f.) In diesem Sinne zeichnet sich Bewußtsein durch Selbstevidenz (Begründung und Begründetes fallen in eins), Autoperformation und Autoreflexivität aus. Auf diese "Letztbegründungsaporie" (S. 104) sind sowohl Bewußtsein als auch Medien zu beziehen. Bewußtseinsvollzug und Mediennutzung stellen "nur zwei komplementäre Modelle ein und desselben Vollzugs dar": "Denn so wie Mediennutzung zugleich Bewußtseinsvollzug impliziert, impliziert gleichermaßen Bewußtseinsvollzug notwendigerweise Mediennutzung." (S. 105) Dieser Sachverhalt wird im Theorieelement der strukturellen Kopplung entwickelt.

Näher bestimmt wird Bewußtsein durch das "Reflexionsmodell". Es trägt der unüberbrückbaren Doppelung und Zweidimensionalität von Bewußtsein (Bewußtseinsvollzug und -gegenstand) Rechnung. Dem Bewußtsein ist ein "reflexives, relationistisches und egologisches Moment" (S. 112) eigen. Da die Autoreflexivität des Bewußtseins sich im Selbstbewußtsein auf sich selbst zurückwendet, gilt Selbstbewußtsein als "paradigmatisches Bewußtsein". Der selbstidentifikatorische Prozeß zwischem dem "tätigen Ich-Subjekt" und dem "vorgestellten Ich-Objekt" (Düsing, zit. S.114), zwischen dem thematisierenden Subjekt-Pol und dem thematisierten Objekt-Pol (Henrich, zit. S.115) verläuft in unendlicher Iteration. "Der Dimension des Vollzugs kommt die aktive und präsentische Qualität, der des Vollzogenen die passive und perfektive Qualität zu." (S. 117) Die Paradoxie des Selbstbewußtseins besteht darin, daß im "Vollzugsereignis" das Selbst als "vollzogenes Ereignis" "in der Situation der unaufhebbaren Verspätung" verbleibt (S. 119) Da hierbei das Prozessieren des Bewußtseins zugleich der Gegenstand des Prozesses ist, bleibt Bewußtsein für sich selbst uneinholbar und zugleich, da jeder Gedanke Bewußtsein schon immer voraussetzt, unhintergehbar.

Mit dieser Konzeptualisierung von Bewußtsein legt die Arbeit das Fundament für alle folgenden Ausführungen, die sich als Entfaltung des Problemfundus und thematische "Engführungen" des Reflexionsmodells des Bewußtseins verstehen lassen. Auf methodischer Ebene erfordert die Prozessualität und damit Uneinholbarkeit und Unhintergehbarkeit von Bewußtsein die Umstellung von Was- auf Wie-Fragen – gemäß der Luhmannschen Forderung nach produktiver >Auswickelung< von Paradoxien. Da jede Antwort die Paradoxie des Ausgangspunktes weiterentwickelt (ausfaltet und bereichert, aber nicht still stellt), folgt die Problementfaltung der Logik von Analogisierung bzw. (Struktur-)Homologisierung und "Engführung" bzw. Umsetzung – beginnend beim Selbstbewußtsein als Paradigma des Bewußtseins und dem "Weiterschreiben" der Bewußtseinstheorie als Medientheorie. Die Studie will zeigen, wie das Medium dazu beiträgt, "die Aporetisierung durch eine produktive Aneignung der paradoxieerzeugenden Differenz prozessual aufzulösen." (S. 164)

Doch Bewußtsein allein, eben weil es uneinholbar und unhintergehbar ist, wird durch die daraus resultierenden Paradoxien als Letztbegründungsebene aporetisch. Diese Aporie wird aber aufgeklöst, wenn in diesen Letztbegründungszusammenhang Kommunikation hinzutritt, denn dadurch entfaltet sich das Wechselspiel zur strukturellen Kopplung, die eben nicht mehr aporetisch ist, sondern die Paradoxien gerade zur Selbstprozessualisierung konstitutiv nutzen kann.

Der Begriff Kommunikation wird in der konstruktivistischen und systemtheoretischen Konzeption auf der Basis von Autopoiesis eingeführt. Im Rahmen der Aneignung und Umformung der subjektphilosophischen Erbmasse in der Systemtheorie wird das Subjekt als Beobachter und die Subjekt-Objekt-Differenz als System-Umwelt-Differenz reformuliert und auf die doppelte Unterscheidung zwischen Operation und Beobachtung sowie von Unterscheidung und Bezeichnung abgehoben.

Durch Kommunikation als zweites Beobachtungssystem wird die Paradoxie des Bewußtseins als Paradoxie der Beobachtung handhabbar. Mit der Unterscheidung von Beobachtung und Gedanke "prozessiert das Bewußtsein voran, indem es zurückblickt. Es operiert gleichsam mit dem Rücken zur Zukunft, nicht proflexiv, sondern reflexiv" (Luhmann, zit. S. 194). Die Entparadoxierung der Autoreflexivität des Bewußtseins erfolgt im Prozeß der Kommunikation, die Zeit als differenzierende Ablaufkategorie allererst erzeugt. Das umstrittene Diktum Luhmanns, wonach >Kommunikation kommuniziert<, wird dahingehend ausgelegt, "daß die Kommunikation sich selbst beobachtet und dabei zwischen der Informationsseite (der Fremdreferenz) und der Mitteilungsseite (der Selbstreferenz) unterscheidet" (S. 212) und im Verstehensakt im Zuge der Anschlußkommunikation beide Seiten aufeinander bezieht.

Die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation – zwei symmetrisch konzipierte Systeme, die sich wechselseitig für ihre Operationalisierung voraussetzen –, gilt als prozessfähige "Letztbegründungsfigur" (S. 228): Bewußtsein und Kommunikation sind "notwendig, unabdingbar und konstitutiv miteinander strukturell gekoppelt" (S. 232); sie liefern sich wechselseitig die Anstoßimpulse, um den differentiellen Prozeß in Gang zu halten.

Dabei wird insbesondere die strukturelle Kopplung als Fundamentaltheorem eingeführt; auf ihr beruht die Selbstcharakterisierung des Unternehmens als Letztbegründung. Wird mit diesem Begriff aus der Perspektive aktueller wissenschaftstheoretischer Standards eine metaphysische oder gar ideologische Apodiktisierung verstanden, will ich vielmehr eine transzendentale Begründungsfigur reaktualisieren, die das Medium als Bedingung der Möglichkeit von Medialität schlechthin bestimmt. Ihre methodische Funktion besteht darin, eine Ausgangsebene festzulegen, in der Begründendes und Begründetes zusammenfallen, um in dieser Autoreflexivierung die Unhintergehbarkeit von Medialität zu verorten. Als Letztbegründungsebene fungiert Bewußtsein, aber nur insoweit, als deutlich wird, daß die paradoxalen Aporien einer solchen Letztbegründung erst durch die strukturelle Kopplung von Bewußtsein mit Kommunikation aufgehoben werden können. In dem Moment, wo Kommunikation in struktureller Kopplung zu Bewußtsein tritt – so soll initiatorisch deutlich werden –, rückt die strukturelle Kopplung selbst in die Position einer Letztbegründungsebene ein, und zwar so, daß sie zugleich das operative Differenzierungsmuster der (produktiven) Einheit von (konstitutiver) Differenz (für das Differente) zur Verfügung stellt.

Die "prozessuale Doppeldimension der strukturellen Kopplung" wird als Medium begriffen: "Das Medium ist die kognitive Disposition von Kommunikation und immer zugleich auch die kommunikative Disposition von Bewußtsein." (S. 255) Damit grenzt die Arbeit einen differentiellen, auf Sinn bezogenen Medienbegriff von einem technischen, auf Subjekte und Medienereignisse bezogenen Medienbegriff ab. In seiner Differentialität und damit Eigenschaftslosigkeit ist Medium "ein prinzipiell unbestimmbarer, undefinierbarer Begriff" (S. 266), der als prozessualer Operator ("eine sich selbst prozessierende Differenz", S. 267) die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation am Laufen hält. "Die Differentialität des Mediums ist (nichts anderes als) die Differentialität von Bewußtsein und Kommunikation in struktureller Kopplung." (S. 275) Differentialität im wechselseitigen Konstitutionsprozeß von Bewußtsein und Kommunikation wird als Medialität verstanden. (Die Gegenüberstellung zur autoperformativen "différance" im Sinne Derridas liegt nahe und wird durchgeführt.)

In der Konzeption des Medienbegriffs kommt die Fundierung der Systemtheorie Luhmannscher Provenienz auf Differenz vollständig zum Tragen. In der Differenz von Bewußtsein und Kommunikation sieht er die "Ur-Differenz" bzw. die "Startdifferenz von Systemtheorie" (S. 282). Sie wird kategorial in den relationalen und korrelativen Begriffen von Medium und Form gefaßt: Medien leisten die strukturelle Kopplung, indem die Formbildungen in einem System - Bewußtsein oder Kommunikation - Formbildungen im anderen System anstoßen. Möglich wird dies durch ein re-entry auf beiden Seiten, indem Bewußtsein wie Kommunikation zwischen Selbst- und Fremdreferenz unterscheiden und im Zuge eines zweiten re-entry diesen Unterschied im je eigenen System kognitiv bzw. kommunikativ beobachten. Damit vollziehen beide Systeme im Wechselbezug aufeinander Sinn: Sinn ist die operative Differentialität, die aus der beidseitigen Reflexivität struktureller Kopplung resultiert. "Sinn ermöglicht die Co-evolution der strukturell gekoppelten Systeme, und strukturelle Kopplung bringt Sinn hervor." (S. 293)

Auch in diesem Argumentationsknoten, in dem die Arbeit ihren "Abstraktionszenit" (S. 300) erreicht, wird der grundbegrifflichen Vorrang der Differenz vor jeder Einheit durchgehalten. Dabei werden mehrere Differenzierungsprozesse differentiell gesetzt , wobei Medium und Form nicht nur ihre Positionen tauschen (Form als Medium), sondern diese Positionen auch reflexiv aufeinander bezogen werden. Der konstruktive Mehrwert derartiger Differenzbezüge für die Theoriearchitektur leuchtet ein, der Gegenstand der Ausführungen ist referenzsemantisch – zugegeben – kaum noch ausformulierbar.

Mittels dieser Differenz(ierung) kann man Sinn als eine Fundamentalkategorie über die Figur der Einheit einer Differenz definieren. Jedes Medium operationalisiert in diesem Sinne die Einheit einer Differenz. Im Medium wird die Einheit einer Differenz ereignishaft konkret und sinnfällig. Damit liegt ein systemischer, kein technischer Medienbegriff vor, der die technizistischen Aporien, die in der Ausblendung von Sinn- und Subjektkategorien bestehen, umgeht, dennoch aber nicht – aufgrund des systemtheoretischen Theorieelements der strukturellen Kopplung – subjektivistisch fundiert sein muß.

Dieses Differenzierungspotential, das von der Systemtheorie ausgehend als Grundlagenmethodik und -methodologie entwickelt wird, erlaubt sodann, weitere Differenzierungsmuster einzupassen, insbesondere dasjenige zwischen Schrift und Stimme. Gilt nun Sinn (noch im Kontext der Systemtheorie) als unnegierbar und somit als Exemplikation der Denkfigur von der ‚Einheit der Differenz', so kann diese Figur grundsätzlich auf alle darauf aufbauende Sinnkonkretisationen im Zuge literarischer Interpretation bezogen werden. Es erlaubt eine differenzierte Position in der Diskussion um die Materialität der Kommunikation bzw. um die Technik des Mediums, aber auch den Rückgriff auf den Gegensatz von Stimme und Schrift.

Der folgende ">Abstieg< zum Konkreten" (S. 300) erfolgt in spezifizierenden Stufen. Sie dienen der Klärung der Frage, "wie Wahrnehmung, Bewußtsein und Subjektivität unter medialen Voraussetzungen zusammenhängen" (S. 312). Die Lösung liegt in der Stellung der Begriffe Wahrnehmung, Interpretation und Sinn; von zentralem Interesse in diesen Ausführungen, die hier nicht referiert werden können, ist die Konzeptualisierung von Interpretation.

Ausgehend von der strukturellen Kopplung wird für Interpretation ein integratives Konzept erarbeitet, "das sowohl die konstruktivistische Variante der Wahrnehmung, die systemtheoretische des Sinns und die hermeneutische der Interpretation miteinander ins produktive Verhältnis setzt" (S. 325). Voraussetzung für Interpretation ist Biprozessualität von Bewußtsein und Kommunikation, mithin die strukturelle Kopplung als Selbstreproduktion über den Umweg des je anderen Systems. Interpretation bildet das "sinnkonstituierende prozessuale Moment" der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation (S. 333). Als "interpretative Form" wird jede Formbildung im operativen Rahmen der strukturellen Kopplung bezeichnet, welche die Formbildung der beteiligten Systeme im Medium des Sinns reflexiv handhabt (S. 339).

Der auf diese Weise konzipierte Begriff der Interpretation stellt eine Verbindung zwischen dem technischen (F. A. Kittler: Technik als Apriori) und dem systemischen Medienbegriff (Luhmann) her. Er wird der Argumentation im Konstruktivismus wie im Interpretationismus – mit der Kernthese: "Alles, was ist (Welt, Wirklichkeit und Sinn), ist nur als Interpretation erfaßbar." (Davidson, zit. S. 326) – gerecht. Da strukturelle Kopplung auch als dreiwertige prozeßhafte Semiose (im Sinne von Peirce) beschrieben werden kann, fügt die Arbeit eine zeichentheoretische Reformulierung bei. Dadurch wird die systemtheoretische Argumentation für den Kenner der Semiotik von Peirce einsichtig und nachvollziehbar.


5. Ergebnisse: Schrift, Text, Literatur und Literaturwissenschaft (Kap.6, 7, 8)

Eine Konkretisierung des Medienbegriffs erfolgt am Beispiel der Schrift. Verstanden als "interpretative Form für Medien in der strukturellen Kopplung" (S. 396), vollzieht Schrift strukturelle Kopplung mit spezifischen Folgen für Kommunikation und Bewußtsein. Erst mit der Schrift entsteht der Unterschied von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, der die Funktion des Mediums Schrift prägt. Die Konzeption geht von einer Folge aufeinander aufbauender interpretativer Formen aus: Schrift ist das Medium für die interpretative Form von Text, Text das Medium für die interpretative Form des Buches. Gemäß dem >Rieplschen Gesetz< (S. 375) kommt es dabei zu einer Respezifizierung der Funktionen einzelner Medien im Medienverbund und der Medienkonkurrenz.

Auf welche Weise und mit welchen Folgen die Medien die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation leisten, wird am Gedächtnis aufgezeigt. Durch Schrift erfolgt ein In-Form-Bringen, eine "Formation oder Formatierung des Bewußtseins" (S.405) – akzentuiert im Ausdruck "Psychotechnologie" (Kerckhove, zit. S.413). Im Zuge dieser Ausführungen – für die das Gedächtnis nur ein Thema unter anderen ist – werden die medientheoretischen Argumente, aus denen die Konsequenzen von Schrift, Text und Buch für Kultur und Gesellschaft abgeleitet werden (A. und J. Assmann, Ehlich, Flusser, Giesecke, Goody, Havelock, Mc Luhan, Ong u.a.), der Studie integriert.

Die zeitliche und räumliche Entgrenzung (Auseinanderziehen, Zerdehnen) der schriftlichen (bzw. gedruckten) Kommunikation in Textform geht mit einer Loslösung von aktantenbasierter (face-to-face) Kommunikation einher. Die Reorganisation der strukturellen Kopplung an schriftliche Kommunikation führt zu einer Verdoppelung der Ebenen: Die für mündliche Kommunikation notwendigen texttranszendenten oder textexternen Gegebenheiten werden in schriftlicher Kommunikation "durch textimmanente oder textinterne Indikatoren mittels der Schriftlichkeit substituiert" (S. 446). Für den - im Prinzip bekannten - Sachverhalt kommunikativer Ebenenüberlagerung wird der Luhmannsche Terminus "Kompaktkommunikation" genutzt, womit die Programmierung von Anschlußoptionen der (raumzeitlich versetzten) Kommunikation durch Kommunikation gemeint ist.

In diesem Sinne bezeichnet Kompaktkommunikation den Gewinn von Eigenkomplexität des Textes, der von der Interpretation im Zusammenspiel von Anschlußzwang und relativer Freiheit in den Anschlußmöglichkeiten realisiert wird. In Bezug auf die strukturelle Kopplung ermöglichen Texte eine Verlangsamung des sozialen Verstehens bei einer Beschleunigung und Erhöhung psychischen Verstehens. "Bewußtsein tritt als Systemreferenz dort auf den Plan, wo Kommunikation aufgrund medialer Schriftlichkeit lückenkonfiguriert ist." (S. 460) Darauf bezieht sich die Textinterpretation in dem "Versuch, psychisches Verstehen sozial kommunizierbar zu machen" (S. 459).

Den literarischen Text als Medium begreifen, heißt "ihn als schriftbasiertes Ereignis im Kommunikationsprozeß anzusehen, in dem die Autopoiesis des Sinns so in die Konstellation einer differentiellen Medium / Form-Differenzierung eingeht, daß daraus neue Differenzierungen hervorgehen" (S. 467). Dieser Differenzgewinn resultiert aus der "Prozessualisierung der autoreflexiven Ebenendifferenz des literarischen Textes als interpretativer Form" (S. 467; Differenz zwischen Kommunikation und Kommunikation der Kommunikation) und realisiert sich in der Differenz zwischen literarischem Text und Interpretation. Die konstitutive Autoreflexivität des literarischen Textes wird als "Heautonomie" (Schiller, Homann) und Autopoiesis des Sinns modelliert. Damit wird der Weg für die Einbeziehung der Subjektivitätsproblematik in eine mediale systemische – und insofern subjek- weil aktantentlose – Konzeption frei: "Heautonomie setzt das Subjekt voraus, Autopoiesis dekonstruiert es." (S. 500)

Literatur wird damit auf eine medientheoretische Basis gestellt und historisch als modern – als Konsequenz der Umstellung der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung im 18. Jahrhundert – ausgewiesen.

Die literarhistorische Beobachtung zeigt, daß mit der Umstellung der Gesellschaftstypik im 18. Jahrhundert Literatur erst zu einem Medium in diesem engeren Sinn wird. Sie definiert sich über ihre ‚neue' Funktion, die – in der Folge der Auflösungen stratifikatorischer Sinnordnungen – frei werdenden Sinnpotentiale zu aktualisieren - und zwar nicht zuletzt für eine spezifische Erfahrung im Zuge der Thematisierung von Liebe, Tod oder Gesellschaft selbst. Im Zuge der Thematisierung wird diese Erfahrung selbst zum Prozeß, der subjektive Erfahrung zugleich als Erfahrung von Subjektivität begründet und ermöglicht. Literatur ermöglicht Medienerfahrung als Subjektivitätserfahrung.

Literatur nutzt dazu Schrift und Texte als Medien für Formen, deren Kennzeichen es ist, daß sie immer die Einheit einer Differenz markieren. Literatur ist Medium insofern, als sie die Einheit der Differentialität des Sinns und seiner Entdifferentialisierung durch die Schrift sowohl kommunikativ als auch kognitiv herstellt. Literatur ist so notwendigerweise auf Interpretation hin bezogen, aber nur in dem Maße, in dem sie – konstitutiv! – gleichzeitig Interpretation hintergeht bzw. unterläuft. Literatur ist die Einheit der Differenz von Interpretationsverweigerung und Interpretationsprovokation und mithin die Einheit der Kommunikation der Kommunikation und des Inkommunikablen und gleichermaßen der Bewußtwerdung des Bewußtseins ebenso wie des Nicht-Bewußtseins.

Literaturwissenschaftliche Interpretation hat es demgemäß mit der "konstitutiven Leistung einer medial fundierten und vermittelten Subjektivitätserfahrung" (S. 597) wie mit der Dekonstruktion von Subjektivität zu tun. "Zu tun haben mit", heißt jedoch nicht, daß die Literaturwissenschaft die Sinnbildungsprozesse objektivierend und vergegenständlichend vor sich zu bringen vermag; vielmehr rückt die Interpretation als Sinnereignis in die Prozeßfolge der Sinnbildung ein. Interpretation hat ein re-entry der Differenz von Interpretation und Text, Resultat- und Ausgangstext, zur Voraussetzung, mit der sich die "Prozeßdifferenz von Diskontinuierung und Rekontinuierung" der literarischen (schriftlichen, gedruckten) Kommunikation (S. 599) öffnet. In diesem Sinn ist Interpretation "immer sinnkonstitutive Selbstdifferenzierung" (S. 603).

Die Interpretationspraxis der Literaturwissenschaft kann seit ihrer hermeneutischen Grundlegung auf dieser Basis als eine Konstellation fortgesetzter Differenzierungen rekonstruiert werden, in denen immer wieder in je neuer Konstellation entweder die eine oder die andere Seite markiert wird ("Streit der Interpretationen", z.B. Hermeneutik vs. Strukturalismus), in der sich aber auch Positionen herausbilden, die durch Kooperationsmodelle intern diese Einheit abzudecken versuchen, z.B. die Schleiermachersche Hermeneutik, die mit der Unterscheidung von grammatischer und psychologischer Interpretation die Einheit der Differenz des Individuellen und des Allgemeinen (Manfred Frank) hermeneutisch zu definieren versucht.

Daraus ergibt sich das Fazit, daß Literaturwissenschaft extern diese spezifische Medialität der Literatur gegenüber anderen Medien in Anschlag zu bringen und intern die Vermittlung der Kompetenz zur Differenzierung in ihrer eigenen interpretationsorientierten Methodologie zu leisten habe. Sie kann dabei auch die Prognose – theoretisch und nicht nur empirisch – begründen, daß die spezifische Medialität der Literatur – also die Disposition von Sinn für die Interpretation – ihr einen nicht tilgbaren Platz im Kontext der Medienkonkurrenz, wenn auch mit Modifikationen, sichern wird.


6. Diskussionspunkte

Die folgenden Fragen markieren Diskussionspunkte, die nicht selbst argumentativer Bestandteil der Arbeit geworden sind, sondern – ob sie nun an Details oder Grundlinien ansetzen – immer das Unternehmen insgesamt – im besten Sinne des Wortes – in Frage stellen:

1. Rechtfertigt sich die Ökonomie der Arbeit?

Wer die Pole isoliert betrachtet, kann den Eindruck bekommen, als wäre einerseits der immense und zudem selbst diskussionswürdige Konzeptualisierungsaufwand beim Medienbegriff für die literarhistorischen und literaturwissenschaftlichen Beobachtungen nicht nötig und andererseits diese Konzeptualisierung ein rein abstraktes, nicht mehr konkretisierbares, letztlich metaphysisches Konstrukt. Kann also die Argumentationslinie die beiden Pole noch zusammenbinden?

2. Rechtfertigt sich das Unternehmen als Letztbegründung?

Die Letztbegründung versucht in die Zirkularität eine lineare Struktur einzuziehen. Die Zirkularität resultiert daraus, daß über Medien in Medien (eben in der vorliegenden schriftlichen Arbeit) kommuniziert wird, was zur Folge haben müßte, daß der mediale Charakter des Mediums eben durch die medial gestützte Kommunikation ausgeblendet wird. Wäre dies durch dezisionistische Akte eines Beginns nach der Formel "Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Medien gibt" zu umgehen gewesen? Die lineare Struktur eines zirkulären Begründungszusammenhangs soll die Konzeptualisierung der Begriffe dramatisieren und in eine Auftrittsabfolge bringen. Der Zweck besteht darin, Begriffe an einer bestimmten Argumentationsstelle einführen und sie gleichzeitig als der Argumentation selbst vorausgehend handhaben zu können. Bleibt Letztbegründung ein metaphysisches Unterfangen, das gängigen Wissenschaftsstandards widerspricht?

3. Lassen sich systematische und historische Rekonstruktion des Literaturbegriffs vereinen?

Der in der Arbeit entwickelte Literaturbegriff exemplifiziert sich am Beispiel der deutschen und weiterhin der europäischen Literatur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wird aber gleichzeitig als medial paradigmatisch und somit als ahistorisch ausgegeben. Wo eine solche Literatur auftritt, tritt sie quasi notwendigerweise auf und wird damit zum Paradigma von Literatur. Werden damit frühere oder außereuropäische Formen von Literatur und insbesondere deren Sinndispositionen bzw. Subjektivitätsentwürfe vernachlässigt oder verworfen? Ist die Doppeldefinition von Literatur durch Sinnpotential und Subjektvitätsentwurf ein neuer Euro- / Logozentrismus?

4. Lassen sich Bewußtsein und Kommunikation völlig symmetrisch in struktureller Kopplung konzeptualisieren?

Die symmetrische Konzeptualisierung dient dazu, strukturelle Kopplung als operationsfähigen und selbstreproduktiven Grundlagenprozeß darzustellen. Gleichzeitig aber steigt die Argumentation in die strukturelle Kopplung – quasi asymptotisch an die Kreislinie der strukturellen Kopplung von außen kommend – über das Bewußtsein ein. Dies impliziert zugleich die Frage: Inwiefern Bewußtsein selbst Letztbegründungskandidat gegenüber der Kommunikation sein kann. Reicht die Erklärung: "Bewußtsein kann Selbstbewußtsein, Kommunikation aber nicht Selbstkommunikation vollziehen" aus?

5. Was heißt "Medium"?

Die Arbeit in der vorliegenden Form differenziert begrifflichlich so gut wie überhaupt nicht zwischen den Begriffsformen "Medium", "Medien", "Medialität". Dies erscheint symptomatisch für eine Abstraktion des Medienbegriffs von jeglicher technischer und technologischer Ausformung, die den Medienbegriff nur noch als virtuelles Drittes zwischen Kommunikation und Bewußtsein verortet - virtuell deswegen, weil mit dem Medium kein wirklich drittes Moment hinzukommt, sondern immer nur Formen der strukturellen Kopplung der beiden Systeme, also Medien Bewußtsein und Kommunikation selbst bezeichnet. Das Medium wird so zu einem Letztbegriff, der sich eigentlich jeder Definition verschließt, weil er seine eigene Negation miteinschließt. Wird das Medium zu einem Un-Begriff?

6. Wie hängen Medium und Sinn zusammen?

Diese Frage schließt sich direkt an, weil dasselbe auch für Sinn gilt, der selbst nicht mehr negierbar ist, weil jede Negation von Sinn selbst Sinn ergibt. Solche Letztbegriffe sagen damit alles bzw. – was dasselbe meint – nichts mehr aus! Symptomatisch ist der Zusammenfall beider Begriffe im Konzept des ‚Supermediums Sinn'. Ist es ein tragfähiger Vorschlag, wenn man, so wie man Sinn als die Einheit der Differenz von Medium und Form bezeichnet, Medium und Sinn als unterschiedlich aspektierte Prozeßmomente der strukturellen Kopplung bezeichnet? Sowohl Bewußtsein als auch Kommunikation sind Sinnsysteme, operieren also konstitutiv im Sinn; und erst dadurch wird Sinn Medium.

7. Besitzt diese systemtheoretische Arbeit einen dekonstruktiven, subversiven Subtext?

Die Arbeit ist nicht nur systemtheoretisch fundiert, sondern spielt die Systemtheorie auch gegen die Dekonstruktion aus, jedenfalls dort, wo es darum geht, die Autoreflexivierung der theoretischen Anstrengung selbst noch einmal theoretisch zu fassen, was die Dekonstruktion nur noch in Praxis oder Spiel aufzulösen vermag. Jener Anteil der ‚Unzugreifbarkeit', der nach der breit ausgeführten Konzeption konstitutiv für jedes Medium und geradezu charakteristisch für Literatur ist, muß demnach auch für die Theorie als Medium im allgemeinen und für die vorliegende Arbeit im besonderen gelten.

Wenn nun aber jener Anteil eben gerade durch ‚Unzugreifbarkeit', mithin durch eine Undefinierbarkeit definiert ist, dann kann man über die Bedeutung und Funktion dessen, was die Arbeit, weil sie Medium ist, nicht erfassen kann, nichts anderes sagen, als daß es gleichermaßen konstitutiv für das ist, was sie erfaßt. Wenn dies aber nur so formal, aber sonst nicht weiter zu bestimmen ist, trägt die Arbeit den Keim des Selbstdementis in sich. Wie jedes Sinnphänomen ist sie nur in dem Maße sinnvoll, wie sie sich zugleich dem Sinn entzieht.

Resultiert daraus nicht eine subversive Wendung der Theorie gegen sich selbst? Und wenn ja, führt dies zur Selbstbestätigung oder zur Selbstaufhebung? Und wenn auch dies bejaht wird, bleibt dann nur das dekonstruktive Spiel als Ausweg?



* Unter Verwendung des Habilitationsgutachtens von Prof. Georg Jäger.



Priv.-Doz. Dr. Oliver Jahraus
Universität Bamberg
Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft
An der Universität 5
D-96045 Bamberg

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