Georg Jäger und Claus-Michael Ort
Systemtheoretische Medienkonzeptionen


Andrea Fischer, Judith Frey
und Christiane Neuhauß

Das Nebeneinander von Oralität und Literalität im der Märchenüberlieferung

Sitzung am 6.12.01 in München


Mündliche Überlieferung

Über Funktion und Intentionen des mündlichen Erzählens in der Zeit vor der Schriftsprache kann nichts gesichert bekannt sein, die Mechanismen der Speicherung und des Abrufens von Stoffen können bestenfalls von heute bekannten Fällen rückübertragen werden. Die wenigen wissenschaftlich dokumentierten Fälle mündlicher Überlieferung zeigen zwei Arten oraler Erzählung: das Vortragen von wortgenau auswendig Gelerntem sowie die "bei jedem einzelnen Vortrag stattfindende Rekonstruktion [...] um ein feststehendes inhaltliches Gerüst, das mit einem begrenzten Apparat von beschreibenden und ausschmückenden Formeln kombiniert wird."(Clausen-Stolzenburg 1995. S. 59)

Über das tatsächliche Alter und die Überlieferungsform von Märchen kann eigentlich keine Aussage gemacht werden. Charakteristisch für Märchen ist eine Kombination bestimmter Motive zu einer fantastischen Geschichte. Märchenmotive werden von der literaturwissenschaftlichen Forschung bis ins alte Testament zurückverfolgt und sind in unterschiedlichsten Schriftzeugnissen von der Ballade bis zum Predigtmärchen zu finden.

"Die [Grimmsche] These jedenfalls, das nicht nur ein Volk, sondern viele Völkerschaften völlig anonym über Jahrhunderte Erzählungen getreu im Gedächtnis bewahren, die nur zum Zeitvertreib erzählt wurden und dies unberührt von einer gleichzeitig blühenden Schriftkultur, lässt sich mit den beschriebenen Fällen und Erkenntnissen nicht in Einklang bringen. Man wird daher die Einflüsse der Literatur [auf das Märchen] in wesentlich stärkerem Maße, als in der älteren Forschung angenommen, berücksichtigen müssen."(Clausen-Stolzenburg 1995. S. 71)

Von einer strikten oralen Überlieferung von Märchen und Märchenmotiven kann man nicht ausgehen; vieles deutet auf ein weitgehendes und ineinander verflochtenes Nebeneinander von mündlicher und schriftlicher Tradierung hin.

Schriftliche Überlieferung

Handschriften
Handschriftliche Aufzeichnungen waren im Fall des Märchen kein Verbreitungsmedium, sondern eher Gedächtnisstütze, also Speichermedium. Im Mittelalter ist die Überlieferung von Märchen sowohl mündlich als auch in Buchform (doch mehr zum Vorlesen als zum stillen Lesen) wahrscheinlich. Zur Unterhaltung an Höfen, in Städten und auch im Kloster wurde das Erzählen von Volksmärchen und das Vorlesen von Buch- und Kunstmärchen verbunden zu "frei improvisiertem Erzählen mit eingefügten vorgelesenen Abschnitte" (Karlinger 1988. S. 12), hier also ein Nebeneinander von Oralität und Literalität. Erhalten oder belegt sind jedoch nur sehr wenige dieser Buchmärchen, so z.B. die französische Chantefable Aucassin et Nicolette (mit Anmerkungen, wann zu lesen, vorzutragen oder zu singen) und Predigtmärchen in Klosterbibliotheken.

Buchdruck
Buchdruck verursacht einen Wechsel des Märchens von oral verbreitetem Volksmärchen oder vorgelesenem Buchmärchen zu vorgelesenem Buch- und Kunstmärchen. Damit einher ging gesteigertes Leseinteresse sowie die stärkere Wirkung übersetzter Texte auf die hier deutschsprachige Literatur. Mit der Verschriftlichung und druckmäßigen Verbreitung erfolgt die Zusammenführung und Verdichtung der verbreiteten Motive und Märchen, die zu einer Abnahme der Zahl der Märchenfassungen führt, zugleich jedoch die für einen Leser erreichbare Zahl der Märchen erhöht (Karlinger 1988. S. 31).

Im 17. Jh. werden Märchen "ernsthafter", religiöser und sagenhafter. In Südeuropa dienen sie nach wie vor dem Vorlesen für Groß und Klein, im deutschen und französischen Sprachraum dagegen entsprachen Romane mehr dem Geschmack des lesenden Publikums und so waren die meisten für das 17. Jh. nachweisbaren Märchen in Romane eingesponnen (Praetorius, Moscherosch, Grimmelshausen).

Quellen des deutschsprachigen Märchens sind in Frankreich zu suchen, wo es Ende des 17. Jh. ausgelöst durch Charles Perraults: Histoires ou contes du temps passé und Mme. D'Aulnoys Contes des Fées eine regelrechte "Märchenmode" bei Hofe gab, die der Flut gedruckter Kunstmärchen ab 1696 vorausging. Neben den Feenmärchen waren die 1001 Nacht - Erzählungen von Galland (1704-1712) und 1001 Tag von Petis de la Croix und Le Sage (1710-1712) prägend sowohl für Nachdichtungen durch z. B. Christoph Martin Wieland als auch für die Gegenströmung, z.B. die Bekämpfung der Feerei durch J.K.A. Musäus.
Geschlossene übersetzungen von 1001 Nacht und 1001 Tag ins Deutsche sind erst im 19. Jh. erfolgt, im 18. Jh. jedoch haben diese Märchen eine Starke Resonanz im Bereich des Theaters hervorgerufen: Die Geschichte von Schillers Turandot z.B. entstammt der Erzählung des 63. Tages und wurde zuvor schon in Italien, Frankreich und in Deutschland von F.J. Schmidt (1778) und F. Rambach (1799) für das Theater bearbeitet. Märchenmotive wie Schneewittchen wurden in Puppen, Marionetten und Schattentheatern geboten (Karlinger 1988. S.26).

Im 18. Jh. ist ein Funktionswandel des Märchens zu beobachten (Karlinger 1988. S. 27):
Das Märchen, ursprünglich wohl Erzählung aus der Oraltradition, wird zuerst als Unterhaltunsgstoff für ständemäßig nicht gebundenes Publikum aufgegriffen. Die darauffolgenden Märchenerzählungen von Perrault und D'Aulnoy wenden sich dann jedoch an einen höfischen Zuhörerkreis. Schließlich wird das Märchen Ende des 18. Jh. zum Vorlesestoff im Gouvernantenmilieu mit quasi pädagogischem Habitus.

Man kann nicht davon ausgehen, daß die von den Brüdern Grimm gesammelten Märchen bis zu diesem Zeitpunkt mündlich überliefert worden waren. Motive und ganze Mächen dieser Kinder- und Hausmärchensammlungen (KHM) finden sich in vorhergehenden Märchensammlungen, teilweise noch aus der Vordruckzeit: Bereits 1480 erschien in Augsburg eine deutsche Augabe der Scala caeli von Johannes Goebli, einer mittelalterlichen Legenden- und Exempelsammlung, die in Form der Predigtmärchen auch uns noch bekannte Motive enthält wie z.B. Der Goldene Vogel (KHM 57) und Die drei Brüder (KHM124). Bei Luther wird das Aschenputtel als Aschenprödlin sowie Das tapfere Schneiderlein erwähnt und Anfang des 16. Jh. bietet z.B. Johannes Pauli Hinweise auf Das Hirtenbüblein (KHM 152).

Orale Erzählsituation:

Im Beispiel des Märchens ist eine starke Dominanz der Rezeption in einer eher oralen Erzählsituation auszumachen:
In Form eines freien Vortrags - ob nun tatsächlich als ganzes gelernt oder erst beim Vortrag komponiert, in Form des buchgestützte Nacherzählens eines Textes oder einer Kombination aus freier Erzählung und vorgelesenen Passagen und schließlich auch das reine Vorlesen eines niedergeschriebenen oder gedruckten Buchmärchens. Das Märchen wird von der Vielzahl der Rezipienten gehört und nicht gelesen.

Der Wechsel vom vorgelesenen zum gedruckten und selbstgelesenen Erwachsenenmärchen geht einher mit einem Anstieg der Popularität von Kinder- und Hausmärchen, die wieder in erster Linie vorgelesen werden.
Inwieweit Märchen heute noch vorgelesen werden und welche Bedeutung Märchen auf Tonträgern als Vorlese- Ersatz haben, kann soziologisch untersucht werden.

Der Begriff des Märchens jedenfalls wird im allgemeinen mit Oralität verbunden, wobei diese Begriffszuschreibung tatsächlich mehr auf die Erzählsituation, als auf die Überlieferungsform zutrifft.



Literaturangaben:

  • Clausen-Stolzenburg, Maren: Märchen und Mittelalterliche Literaturtradition. 1. Aufl. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1995.
  • Karlinger, Felix: Geschichte des Märchens im deutschen Sprachraum. 2. erw. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988.

Zum Verhältnis von Oralität und Literalität aus systemtheoretischer Perspektive
am Beispiel des Märchens

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