Georg Jäger und Claus-Michael Ort
Systemtheoretische Medienkonzeptionen


Andrea Fischer, Judith Frey
und Christiane Neuhauß

Zum Verhältnis von Oralität und Literalität aus systemtheoretischer Perspektive am Beispiel des Märchens

Sitzung am 6.12.01 in München


Verbreitungsmedien sind mündliche und schriftliche Sprache, z.B. in Form von Büchern oder technischen Speicher- und Übertragungsmedien. "Verbreitungsmedien bestimmen und erweitern den Empfängerkreis" (Luhmann 1997. S.202) von Kommunikation. Durch Verbreitung gleicher Informationen wird "Information in Redundanz verwandelt" (Luhmann 1997. S.202).

Mündliche Kommunikation

Mündliche Kommunikation findet unter "gleichzeitig Beteiligten" (Krause 2001. S. 154) mit Hilfe des Mediums Sprache statt. Mündliche Kommunikation ist eine soziale Aktivität, die von der wechselseitigen Beteiligung der Anwesenden lebt. Die mündliche Erzählung ist raumgebunden und gegenwartsabhängig. (Luhmann 1997. S. 251)

Erzählen von Volksmärchen (auch Vorlesen von Buchmärchen) setzt die Beteiligung der Anwesenden in der Erzählsituation voraus:
Nachfragen und Anmerkungen, auch Korrektur des Erzählers bei bekannten Stoffen, kurz: sofortige Reaktion des Publikums ist möglich und damit auch die Möglichkeit, auf die Reaktion des Publikums direkt während der Erzählung zu reagieren (Interaktiv!)
Der Märchenerzähler richtet sich nach den "Bedürfnissen der Hörerschaft" (Lüthi 1996. S. 89), die wiederum die unterschiedlichen Erzählweisen zu schätzen weiß.

Der Zweck der Erzählung war nicht die Überraschung der Zuhörer, denen der Inhalt des Märchens meist bekannt war, sondern die Teilnahme am Erzählen (Luhmann 1997. S. 259). Die mündliche Kommunikation überdauert die Situation des Erzählens nicht, sie ist mit ihr identisch (Luhmann 1997 S.276).

Schriftliche Kommunikation

Schriftliche Kommunikation ist "Differenz von mündlicher und schriftlicher sprachlicher Kommunikation für Abwesende durch Abwesende." (Krause 2001. S. 154)
Durch Schrift wird eine Differenzierung in Schreiben und Lesen möglich. Die Abwesenheit der Kommunikationspartner führt zur Erhöhung der Unsicherheit der Kommunikation und desozialisiert die kommunikative Situation. Eine sofortige Reaktion ist nicht mehr möglich, dafür überdauert die schriftliche Kommunikation die Situation (und auch den Schreiber).
Mit Hilfe der Schrift werden "Texte zu Medien" (Krause 2001. S. 155), die eine Interpretation und unterschiedliche Meinungen zulassen. Ein Gebrauch der Schrift in der Kommunikation setzt aber "Leser, also verbreitete Literalität voraus" (Luhmann 1997. S. 262).

Handschriften
Handschriftliche Aufzeichnungen waren im Fall des Märchen kein Verbreitungsmedium, sondern eher Gedächtnisstütze.

Buchdruck als eine Form der schriftlichen Kommunikation von Märchen weitet den Kreis des Publikums eines Textes aus und ermöglicht die universelle Mitteilung von Wissen, was zu Konsistenzprüfung und Possibilisierung des Wissens veranlasst (Krause 2001. S. 114).den Druck eines Märchens und die buchmäßige Verbreitung wird die Unsicherheit der Kommunikation zusätzlich erhöht.

Mit der Verschriftlichung erfolgt die Zusammenführung und Verdichtung der verbreiteten Motive und Märchen, die zu einer Abnahme der Zahl der Märchenfassungen führen, zugleich jedoch die für einen Leser erreichbare Zahl der Märchen erhöht (Karlinger 1988. S. 9).
Die Komplexität der möglichen Varianten eines Inhaltes wird verringert, da die Drucklegung Vergleichbarkeit und Überprüfbarkeit ermöglicht. Auch wünscht der Buchkäufer nicht, Bücher mit ihm schon bekanntem Inhalt zu erwerben.

Im 19.Jh. wird durch die Aufzeichnungen von Perrault und den Brüdern Grimm das "verachtete Volksmärchen" (Lüthi 1996. S. 51) buchfähig und zum "gedrucken Hausbuch" (Lüthi 1996. S. 51). Eine Nachahmung in anderen Ländern findet statt.
Zugleich wird laut Lüthi der "mündlichen überlieferung ein kräftiger Stoß versetzt" (Lüthi 1996. S. 51) und der Erzählkultur der Boden entzogen. Auch in höheren Gesellschaftsschichten wird das Märchen hoffähig. Dies hat zur Folge, daß nur noch Gedrucktes als kulturelles Erbe akzeptiert und orale Überlieferung als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird (Giesecke 1992. S. 61).

Durch gedruckte oder elektronisch gespeicherte Schrift befreit sich die Kommunikation von gesellschaftlichen, zeitlichen, sachlichen und räumlichen Beschränkungen, die Standardisierung der Schrift erleichtert die Kommunikation.

Digital gespeicherte Schrift
Elekronische Medien stellen "weder mündliche noch schriftliche Kommunikation in Frage, sondern eröffnen ihnen nur zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten" (Luhmann 1997. S. 303).

Digital gespeicherte Schrift verstärkt die Unsicherheiten der Kommunikation nochmals.
Digitale Technologien werden als "Verbreitungsmedien für Kommunikationen [gesehen], die mehr noch als Schriften die dreifach-selektiven Differenzen von Kommunikation gegeneinander differenzieren, dabei vor allem Autor- und Adressatenschaften weiter anonymisieren und die Eigenselektivität von kommunikativen Zugriffen verstärken."(Krause 2001. S. 115)

Genauso wie der Buchdruck werden die neuen Medien zu einer "Projektionsfläche für Wünsche" (Giesecke 1992. S. 48) wie Generierung und Speicherung von Wissen und neue Möglichkeiten der Kommunikation.
Erweiterungen oder neue Kommunikationsformen werden aber erst durch Vernetzung (noch offenerer Zugriff, Erhöhung der dem Einzelnen zugänglichen Varianten) und Hypertextualität (Nebeneinander der Varianten) möglich.

Inwieweit die Digitalisierung und die Möglichkeiten der digitalen Technik die Form und Rezeption von Märchen tatsächlich verändern werden, bleibt vorerst offen. Uns bekannte Märchen im Netz beschränken sich auf reine Textwiedergabe ohne interaktive Möglichkeiten.
Die multimedialen Märchenangebote sind eher Lernspiele als Erzählungen und basieren auf vorhandenen Fernseh- oder Filmproduktionen. (Beispiele: Die Schneekönigin. Ravensburg Interactive Media 1997, und SimsalaGrimm: Das tapfere Schneiderlein. Tivola 2000.)

Diskussionsansätze:

  1. Können im Beispiel der Märchen Oralität und Literalität als geschlossene offene Systeme nach Luhmann gelten?
  2. Wirkt sich der Wandel von mündlicher zu schriftlicher überlieferung auf die Unsicherheit der Kommunikation aus?
  3. Wird durch die Verschriftlichung von Märchen Kontingenz (bzgl. des Variantenreichtums) aufgebaut oder abgebaut?





Literaturangaben:

  • Giesecke, Michael: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1992.
  • Karlinger, Felix: Geschichte des Märchens im deutschen Sprachraum. 2. erw. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988.
  • Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. 3. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2001.
  • Lüthi, Max: Märchen. 9. Aufl. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 1996.
  • Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 1.Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997.

Das Nebeneinander von Oralität und Literalität im Märchen
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